Ab morgen steht Wessels wieder artig hinten an

■ Bayerns Amateurtorwart hat vorerst letzten großen Auftritt beim 1:1 in Glasgow

Glasgow (taz) – Kurz vor Mitternacht nahm Stefan Wessels die letzte taktische Anweisung des Tages entgegen. „Du trinkst nur Wasser, oder?“, fragte Mama Edeltraud ihren 20-jährigen Sohn, und Wessels nickte artig. Die Dreierrunde an der Bar des Glasgower Thistle Hotel wurde vervollständigt durch einen grauhaarigen Mann, der so etwas wie der gute Onkel zu sein schien. „Das war schon ein Erlebnis“, sagte Franz Beckenbauer, Präsident des FC Bayern München, in einem Ton, als rede er von Erstkommunion oder Kindergeburtstag.

Und was für ein Erlebnis es für Familie Wessels aus Lingen/Niedersachsen gewesen war: Mama Edeltraud, laut Beckenbauer „als Maskottchen eingeflogen“, hatte auf der Tribüne des Ibrox-Stadions „in der Nähe von einem Schotten gesessen, dem man nicht im Dunkeln begegnen möchte; der hat ja allerhand Schimpfwörter benutzt“. Der Sohn, durch eine kuriose Verletzungsserie beim Deutschen Meister für einen Abend vom vierten Torwart zur Nummer eins aufgestiegen, begegnete unterdessen im Flutlicht allen Herausforderungen mit ungeahnter Bravour.

Es ist keine dramaturgische Übertreibung, Wessels beim 1:1 des FC Bayern im Champions-League-Vorrundenspiel bei den Glasgow Rangers als besten Spieler seiner Elf zu preisen. Drei klasse Paraden zeigte der Amateur, der sonst Vorspiele in der zweiten Elf der Bayern vor 300 Zuschauern gibt, vor 50.000 Fanatikern in Ibrox. Wessels war begeistert: „Kaum ist die Mutter da, läuft's.“

Die Begeisterung um die brave Familie Wessels übertünchte die Ernüchterung, die dieser Auftritt des letztjährigen Champions-League-Finalisten eigentlich auslöste: Da war wenig Begeisterung, kaum Inspiration zu sehen. Am Dienstagabend erschien der FC Bayern geschafft; von der ersten Spielminute an. Stefan Effenberg etwa, der Kapitän und im Vorjahr so oft eine mitreißende Figur, tat und machte – allein, er kam nicht ins Spiel. Die Saison ist erst fünf Wochen alt, und Trainer Ottmar Hitzfeld sagt: „Wir müssen uns durchkämpfen.“ Der Ausgleich fiel durch einen abgefälschten Freistoß von Michael Tarnat in der Nachspielzeit, das allein mag demonstrieren, wie glücklich das Unentschieden zustande kam.

Präsident Beckenbauer versuchte sich später mit dem ältesten aller Fußballtricks – die eigene schwächere Aufführung auf den starken Gegner zurückzuführen. „Wer in diesem Stadion bestehen kann, kann überall auf der Welt bestehen“, verkündete er pathetisch. Muss man das ernst nehmen? Rangers hat eine gute, für 100 Millionen Mark zusammengekaufte Mannschaft. Doch es werden größere Gegner kommen. Verblüffend einfach trugen die Rangers ihr Spiel vor, mit flachen, direkten Pässen aus dem Mittelfeld suchten sie unaufhörlich ihre zwei Stürmer. Weil Lothar Matthäus den Libero vor der Abwehr spielte, standen die Verteidiger Thomas Linke und Samuel Kuffour häufig ohne Absicherung gegen den exzellenten Michael Mols und Jonatan Johansson; beide wendige Stürmer, die oft genug mit einer einzigen Drehung an den Bewachern vorbei waren und freie Bahn hatten. Bloß ihren Torschüssen fehlte es an diesem Abend an Raffinesse. Jörg Albertz, Rangers' deutscher Mittelfeldspieler, übernahm es, das 1:0 nach 22 Minuten zu erzielen.

Unterdessen kündigte Beckenbauer launig an, Nationaltorwart Oliver Kahn werde es „nach der Leistung von Wessels schwer haben, wieder in die Mannschaft zu kommen“. Da lachte Wessels selber. Trainer Hitzfeld erzählte, bei Kahn, dem der Mitspieler Kuffour am vergangenen Samstag mit einem Fehltritt das Gehirn erschütterte, seien „die Gehirnströme gemessen“ worden, er könne am Freitag im Bundesligaspiel gegen den VfB Stuttgart mitmachen. Wessels wird sich wieder hinten anstellen. Sein Debüt weckte Erinnerung an einen anderen Torwart, der in Ibrox einen großen Einstand gab. Sven Scheuer, damals 19, sicherte vor neun Jahren den 3:1-Europacup-Sieg der Bayern über die Rangers; es bleibt zu hoffen, dass Wessels' Karriere einen auffälligeren Verlauf nimmt als die von Scheuer, der sich immer mit einer Reserverolle bei Bayern zufrieden geben musste.

Als der Held für einen Abend Ibrox 45 Minuten nach Spielende verlassen wollte, hielt Bayern-Geschäftsführer Karl Hopfner Wessels hektisch auf. Die Polizei schicke ihn, sagte Hopfner: „Draußen im Stadion sind noch 400 Bayern-Fans, die sagen, sie gingen nicht nach Hause, bevor sie Stefan Wessels noch mal gesehen hätten.“

Ronald Reng