Neue Leitbilder

■ Kongress in Hamburg über sexuelle Gewalt männlicher Jugendlicher

Der Übergang ist fließend. Ist er im Kindesalter, gilt ein Junge als Opfer, wenn er etwa im Kindergarten durch sexuell aggressives Verhalten auffällt. Hat er bereits seinen 10. Geburtstag gefeiert, ist plötzlich von einem Täter die Rede. „Zwischen Früherkennung und Stigmatisierung“, lautete denn auch der Titel eines der Eröffnungsvorträge des Fachkongresses „Sexuelle Gewalt männlicher Jugendlicher“, der gestern in Hamburg begann.

Eingeladen hat die „Bundesarbeitsgemeinschaft der Kinderschutz-Zentren“ in Kooperation mit dem Landesvorstand der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). 150 Fachleute aus Beratungsstellen, Jugendhilfseinrichtungen, Schule, Bewährungshilfe sowie Kinder- und Jugend-psychiatrie sind für zwei Tage ins Curio-Haus an der Rothenbaum-chaussee gekommen, um über Hilfsangebote für sexuell aggressive Jungen zu beraten.

Bei einer vor zwei Jahren veröffentlichten Studie der Universität Potsdam hatten 32 Prozent von insgesamt 256 befragten jungen Männern angegeben, ihre sexuellen Interessen schon mindestens einmal mit Gewalt durchgesetzt zu haben. „Jungen wissen heute eigentlich, dass das traditionelle Bild des Machos nicht mehr tragfähig ist“, erklärt der Pädagoge Reinhard Winter vom Tübinger „Institut für regionale Innovation und Sozialforschung“. „Weil es an positiven Leitbildern mangelt, flüchten sich viele noch immer in traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit, mit der sie vor allem Leistung, Aktivität und körperliche Stärke in Verbindung bringen“.

Die Leitbilder männlicher Identität herauszuarbeiten, ist einer der Schwerpunkte des Kongresses. Ein zweiter soll darin liegen, sexuelle Gewalt vor dem Hintergrund eigener seelischer Verletzungen der Jungen durch ihre Familien zu begreifen.

Dieser Blickwinkel gehe durch die schnelle Stigmatisierung der Jungen als Täter verloren, so Charlotte Köttgen vom Amt für Jugend. Deshalb distanzieren sich die TeilnehmerInnen der Tagung nachdrücklich von der Diskussion um verschärfte Strafen. Damit würde man sich den Zugang zu den Jugendlichen verschließen – die einzige Chance, therapeutisch auf sie einzuwirken. Elke Spanner