Nürnberg des Norden

Als Schmuckstück der Weserrenaissance präsentiert sich Hameln und lockt mit dem Rattenfänger Touristen an. Eine Besucherschwemme hat der Stadt auch ein anderer Menschenfänger beschert. Doch dieses Kapitel ihrer Geschichte haben die Hamelner bislang gern verschwiegen Von Kirsten Alleé

Die Feste auf dem Bückeberg südlich von Hameln gehörten zu den größten Veranstaltungen der Nazipropagandamaschinerie, und viele ältere Menschen können sich heute noch gut daran erinnern, wie Adolf Hitler zwischen 1933 und 1937 die Menschenmassen zu den Reichserntedankfesten lockte. Indem aus dem Erntedankfest ein staatlicher Feiertag wurde, sollten die Bauern, der „Reichsnährstand“, in die „Volksgemeinschaft“ eingebunden werden.

Propagandaminister Josef Goebbels höchstselbst wählte den Bückeberg als geeigneten Ort aus – wegen seiner Lage im „bäuerlichen Kernland Niedersachsen“ und der Nähe zur Weser, dem „deutschesten aller Ströme“. Auch praktische Erwägungen spielten eine Rolle. Der Hügel war sanft abfallend und breit genug, um die erwarteten Massen aufzunehmen und gleichzeitig allen einen freien Blick auf die Attraktion des Festes zu gewähren: die Rednertribüne Adolf Hitlers.

„Von Anfang an war das Fest ein Instrument der Propaganda“, sagt Bernhard Gelderblom. Der Hamelner Geschichtslehrer hat die Historie der Bückeberg-Feste in jahrelanger Arbeit Stück für Stück recherchiert und im Juni dieses Jahres in einer Ausstellung präsentiert. In zahlreichen Gesprächen mit Zeitzeugen sei ihm aufgefallen, wie wenige Menschen sich über die eigentlichen Hintergründe der Veranstaltung klar geworden seien. So wie das ganze Kapitel ein blinder Fleck in der Stadtgeschichte geblieben sei, so hätten auch viele einstige Reichserntedankfestbesucher ihre eigene Vergangenheit offenbar nicht bewältigt. „Die meisten berichten ganz unbefangen und begeistert von ihren Erlebnissen“, wundert sich Gelderblom. „Nur gelegentlich ist diffuses Unbehagen zu spüren.“

Dass die Massenfeier auf dem Bückeberg kein unschuldiges Bauernfest war, ist jedoch schon in den Anfängen zu sehen: Landwirtschaftsminister und Reichsbauernführer Darré hat mit der Planung kaum etwas zu tun. Sie liegt ganz in der Hand Goebbels'. Der beauftragt Leopold Gutterer mit der Ausrichtung. Der spätere Ministerialrat im Propagandaministerium kennt sich mit der Inszenierung von Großveranstaltungen aus. Er organisiert auch die Feiern zum 1. Mai in Berlin und die Nürnberger Parteitage.

Hitlers Lieblingsarchitekt Albert Speer unterliegt die Gestaltung des Festplatzes. 1.800 Männer des Reichsarbeitsdienstes tragen eine Bergnase ab, die den Blick auf die untere Tribüne versperrt. Bodenwellen werden eingeebnet, ein zehn Meter breiter und einen halben Meter erhöhter Mittelweg angelegt. Auf diesem „Führerweg“ wird Hitler zur Rednertribüne gehen, durch die jubelnden Massen, aber immer ein Stück über dem Volk. Die Propagandamaschinerie nutzt modernste Techniken für ein großes Medienspektakel. Das Großereignis wird im Rundfunk übertragen. Mehrere Podien für Filmaufnahmen sind aufgebaut. Auch von Zeppelinen aus wird gefilmt. Die „Aufmarschleitung“ mit Gutterer und Speer an der Spitze nimmt in der Domäne Hagenohsen Quartier.

Annemarie Riecke, Tochter des Domänenpächters, ist gerade acht Jahre alt und mit den Gästen ihres Vaters sehr einverstanden. Dank der Fürbitte Speers dürfen sie und ihre Brüder länger aufbleiben. Zum ersten Reichserntedankfest darf sie aber nicht. Es soll in den Abendstunden stattfinden. Ein Meer von Scheinwerfern wird den Ring aus tausend Fahnenmasten erhellen. Minutiös wird der Ablauf geregelt. Eine halbe Million Besucher strömen in die 28.000-Seelen-Stadt Hameln: Bauern aus dem gesamten Deutschen Reich. Nach einem genauen Zeitplan werden sie zum Festplatz gebracht, die ersten um fünf Uhr früh. Nach sieben Stunden ist der Bückeberg schwarz vor Menschen. Die Wehrmacht gibt ein Großkonzert, Massenchöre mit fünfzehntausend SängerInnen treten auf, die berittene Reichswehr formiert sich zu einem drehenden Hakenkreuz. Nach stundenlangem Warten trifft Adolf Hitler ein. Als „Volkskanzler“ tritt der sonst so unnahbare Führer vor den Bauern auf, lässt sich anfassen und begrüßt die jubelnden Zuschauer. Für seinen Weg durchs Volk hat die Propagandaregie eigentlich nur fünfzehn Minuten eingeplant. Doch Hitler genießt die Masseneuphorie. Ganze 45 Minuten braucht er für den fünfhundert Meter langen Weg zur Tribüne. Nur der Abschluss der Feier endet im Chaos. In der Dunkelheit finden die Menschen nicht zu ihren Bahnhöfen. Im extra eingerichteten Fundbüro werden Mäntel, verloren gegangene Kinder und sogar ein Gebiss abgegeben.

Ist das erste Reichserntedankfest tatsächlich mit Volkstänzen, Trachtengruppen und Chorgesängen weitgehend bäuerlich geprägt, gerät es in den folgenden Jahren immer mehr zur Militärschau. Ein provisorisch errichtetes „Bückedorf“ wird Ziel ausgedehnter Gefechtsübungen, bis es 1937 im Rahmen eines regelrechten Manövers von der Artillerie in Schutt und Asche gelegt wird. Mehr als eine Million Menschen wohnen dem Spektakel bei. Von diesem Besucheransturm profitiert nicht zuletzt die industriearme Stadt an der Weser. In Anlehnung an die Massenaufmärsche auf den Nürnberger Parteitagen sieht sich Hameln schon als „Nürnberg des Nordens“.

Doch vom strengen, monumentalen Reichsparteitag unterscheiden sich die Erntedankfeste erheblich. Sie sind bewusst schlicht gehalten, wahren zumindest den Schein eines Volksfestes in freier Natur. Als ungezwungen hat auch Ulrich Sahm die Feier empfunden. Der damals 16-jährige Schüler kam 1934 nach Hameln. Sein Vater Heinrich, 1931 bis 1935 Oberbürgermeister von Berlin, war Ehrengast. Der Sohn wollte von der Ehrentribüne aus möglichst viele Promis fotografieren. „Niemand stand stramm“, erinnert sich Sahm. „Es war eine ausgesprochen fröhliche Stimmung.“

Fröhlich“ ist auch das Wort, das Annemarie Riecke heute im Zusammenhang mit den Reichserntedankfesten benutzt. Die 74-Jährige wohnt direkt am Bückeberg und hat neben Erinnerungen auch viele Andenken bewahrt. „Die Begeisterung der Leute war echt“, sagt sie überzeugt und präsentiert zum Beweis ein Familienalbum aus braunem Leder mit Fotos und Zeitungsausschnitten vom ersten Bückeberg-Fest. Die historischen Bilder den schönen Schein des Naziregimes. Es ist das andere Gesicht des Regimes – Bilder von begeisterten Massen, gewaltigen Fahnenumzügen, der ästhetischen Darstellung von Macht und Stärke.

Auf einem der Fotos ist Annemarie Riecke als junges Mädchen zu sehen, mit langen blonden Zöpfen, den strahlenden Blick auf den Führer gerichtet. 1935 durfte die Tochter des Domänenpächters Adolf Hitler die Hand geben. Das karierte Schottenkleid, das sie zu diesem Anlass trug, wurde noch lange danach geschont. Im Vitrinenschrank steht noch ein Becher mit der Inschrift „Aus diesem Glas trank der Führer am 2. Erntedankfest auf dem Bückeberg, 29. September 1934“. „Dafür wollten mir die Amis nach dem Krieg vierhundert Dollar geben“, erzählt Annemarie Riecke. Doch verkauft hat sie ihr Kleinod ebenso wenig wie das Rednerpult Hitlers. Bis vor kurzem beanspruchte es noch seinen Platz auf dem Speicher. Doch nun ist es entsorgt worden, die Holzwürmer hatten es respektlos zerfressen.

Die ungetrübte Zustimmung Annemarie Rieckes sei typisch für die Haltung der Landbevölkerung, sagt die Historikerin Beatrix Herlemann. „Die Nationalsozialisten hatten den Bauern große Versprechungen gemacht.“ Entschuldung der Höfe und gesellschaftliches Ansehen stellten sie dem zum Teil verarmten und von Existenzängsten geplagten Landvolk in Aussicht. „Das klang den Menschen wie Musik in den Ohren.“ Bis heute wirke die Begeisterung nach, weiß die Historikerin aus Erfahrung. Reaktionen auf ihre Ausstellung mit dem Titel „Die deutschen Bauern geschlossen hinter dem Führer?“ – auch in Hameln in umgearbeiteter Form als Begleitausstellung gezeigt – sprechen eine deutliche Sprache. So klärte sie ein älterer Besucher auf: „Na klar standen wir alle hinter Adolf, da brauchen Sie gar kein Fragezeichen.“

Nur wenigen Zuhörern fiel damals auf, dass in Hitlers Reden auf dem Bückeberg landwirtschaftliche Themen keinen Platz hatten. Die Jubelveranstaltung war eine rein politische Angelegenheit, doch sowohl die aggressive Redeweise Hitlers als auch die voranschreitende Betonung des militärischen Elements gehörten für die Menschen zum Alltag. Die Nationalsozialisten trafen den Nerv ihrer Anhänger und weckten Sehnsüchte nach „Volksgemeinschaft“ und „nationaler Größe“.

Das mangelnde Geschichtsbewusstsein ist dem Hamelner Lokalhistoriker Bernhard Gelderblom bei seinen Recherchen jedoch nicht nur von Seiten der Zeitzeugen begegnet. Auch die Stadt Hameln hat dem engagierten Lehrer den Weg zur Ausstellung nicht gerade geebnet. Wenig Unterstützung habe er bekommen, sagt Gelderblom. „Die Stadt stochert eben lieber im Mittelalter herum.“ Die Tafeln, Funk- und Filmdokumente ruhen mittlerweile in Kisten verpackt bei ihm zu Hause. Die Lücke in der Geschichtswissenschaft ist zwar geschlossen, wird aber vielleicht schon bald wieder ein blinder Fleck im kollektiven Gedächtnis sein. Und auch am Bückeberg selbst gibt es noch immer keinen Hinweis auf dieses Kapitel in der Geschichte. Landrat Klaus Heißmeyer, SPD-Mitglied und Bürgermeister der Gemeinde Hagenohsen, hält den „Bückeberg mit den dort stattgefundenen Erntedankfesten für nicht erinnerungswürdig“. Diese ablehnende Haltung begründet Heißmeyer mit der Befürchtung, der Hügel könne zum Wallfahrtsort für Alt- und Neonazis werden.

Kirsten Alleé, 33, lebt als freie Journalistin in Höxter, bis vor kurzem in der Rattenfängerstadt Hameln