Endstation Autobahn

Der Mann ist Kurierfahrer. Auf einem Dreieinhalbtonner. Mit dem immer quer durch Europa. Auf den grünen Zweig kommt er damit nicht. Er ist fast hoffnungslos verschuldet, vor allem in seiner Stammkneipe. Und er weiß nicht, weshalb er sich auf sein Zuhause, auf seine Frau und seine Tochter freuen soll. 72 Stunden auf einer Fahrt über Autobahnen durch vier Länder nach England, beobachtet von Heinz-Jürgen Bernhard

Um kurz nach acht Uhr abends beginnt P.s zweite Schicht. Abfahrt Berlin, Fahrtziel Bristol, England. Tagsüber hat P. seinen weißen Dreieinhalbtonner neunmal mit neuesten Computern beladen und bei einer Firma im Berliner Umland ausgeliefert. P. ist seit sechs Uhr früh auf den Beinen. Jetzt klemmt P. das Handy in die Halterung am Armaturenbrett, hupt zweimal kurz seiner Frau und seiner fünfjährigen Tochter auf dem Balkon zu und fährt Richtung Autobahn.

Es ist ein warmer Sommerabend im Juni. P. liebt es, in die Abenddämmerung hineinzufahren. Noch besser gefällt es ihm, sich rechts neben ein Cabrio zu setzen, wenn eine Frau am Steuer ist. Für einen hochgeschobenen Rock biegt er auch schon mal falsch ab. Seine Frau mag es nicht, dass P. mehrfach im Monat vier, fünf, teilweise neun Tage unterwegs ist. Aber mit dem Geld, das er in diesem Job verdienen kann, wird es endlich Licht am Ende des Tunnels geben, glaubt sie.

P. will seiner Frau auch mal wieder was Gutes tun, das heißt, regelmäßig Geld abliefern. 25 Jahre kennen sie sich, 10 davon sind sie verheiratet. P. hat fast alle Gelegenheiten, seiner Frau etwas Gutes zu tun, ungenutzt gelassen. Die falschen Freunde beim Suff, betrügerische Arbeitgeber und deshalb ständig wechselnde Jobs. P. steht das Wasser nicht nur bis zum Hals, er braucht zum Atmen eigentlich einen Schnorchel.

P. hat diese Tour schon öfters gemacht. Von Berlin aus Richtung Ruhrgebiet, Duisburg, dann bei Venlo nach Holland rein, weiter durch Belgien und Frankreich nach Calais an der Kanalküste. P. drückt aufs Gas. Dunkle Gewitterwolken haben sich ein paar Kilometer voraus zusammengezogen. 130 Sachen fährt der Wagen voll beladen. Was er im Regen an Zeit verliert, will P. vorher oder nachher wieder wettmachen.

Überholmanöver sehen bei P. aus, als hätte er einen Crashtest vor. Bis auf drei, maximal vier Armlängen fährt P. auf seinen Vordermann auf, zieht dann auf die Überholspur, singt If I had a hammer und lacht sich scheckig über die erschrockenen Reaktionen der anderen Fahrer. Dicke Sommerregentropfen klatschen gegen die Frontscheibe.

Die Sonne ist verschwunden. P. liebt seine Tochter, seine Frau mag er irgendwie. Auf der Rückfahrt, ein paar Stunden vor der Heimkehr, will er sie bitten, sich doch was Hübsches auszuziehen. „Aber“, meint er lachend, „den Witz hat sie noch nie verstanden“. Am liebsten will er seine Tochter nehmen und abhauen.

Es schüttet. Vor P., auf der rechten Spur, eine lange rote Lichterkette. Hinter ihm, eine lange weiße. P. schert immer wieder plötzlich aus der Fahrspur aus. Er hat sich, wie bei fast jeder Fahrt, von seiner Frau das Geld für Diesel, Fähre und Verpflegung geliehen. England und zurück kann schon 1.600 Mark kosten.

Tankstop bei Duisburg. Zwei Uhr nachts. Auftanken, danach Würstchen mit Kartoffelsalat, ein Bier, Toilette, Zigaretten ziehen, zwanzig Minuten im Auto auf der Sitzbank dämmern. Achtzig Kilometer Holland, zweihundert Kilometer Belgien und sechzig Kilometer Frankreich durchquert P., fast immer nachts. Auf der Autobahn. Land und Leute interessieren P. eigentlich, aber die einzige Stelle, Kontakt aufzunehmen, ist für ihn eine der vielen Raststätten.

Auf der Autobahn. P. ist immer allein. Langsam entlässt die Nacht Bäume, Hecken und Häuser aus dem Dunkel. Das Vieh steht regungslos auf den Weiden. P. schweigt, starrt auf das Asphaltband vor ihm. Er massiert mit den Fingern die Schläfen, reibt sich mit schnellen Handbewegungen die Unterarme, rutscht auf seinem Sitz nach vorn und nach hinten, öffnet für ein paar Sekunden sein Fenster und greift alle zehn Minuten zu einer Zigarette. Wach zu bleiben ist harte Arbeit.

Ein Hinweisschild nach Calais. P. ist still. Fünf Uhr zwanzig. Um acht Uhr wird P. in Bristol erwartet. Bau- und Ersatzteile für Gasturbinen eines Kraftwerks. Auf seiner Ladefläche kühlschrankgroße Holzkisten und mit Stahlband umzogene Paletten.

P. kann nicht pünktlich ausliefern. Der Zeitrahmen ist von seinem Frachtvermittler viel zu eng gesteckt worden. Also wird P. den einen oder anderen Stau erfinden. Das gehört zum Ritual.

Der Hover-Port von Calais. Sechs Uhr. Die erste Fähre fährt in zwei Stunden. Im Wartebereich der Ladezone beobachtet P. vom Wagen aus, wie die Sonne aus dem Meer steigt. „Allein für diesen Anblick lohnt sich der Job.“ Dann erfüllt ein lautes Rauschen und Brausen die kühle Morgenluft, es ist keiner Richtung zuzuordnen. Nach kurzer Zeit schiebt sich das riesige Luftkissenboot um die Kaimauer herum über den Strand auf den asphaltierten Anlegeplatz. P. starrt mit offenem Mund und weit geöffneten Augen auf das Transportinsekt, wie ein Junge vor seiner ersten Fahrt mit einem Autoscooter.

Die dröhnende Gleitfahrt über die spiegelglatte See dauert 25 Minuten. Die Kreidefelsen von Dover werfen das strahlende Licht der Morgensonne zurück aufs Meer. P. fährt Richtung Westen. Er will frühstücken, aber nicht diesen Raststättenfraß. Bloß nicht Ham & Eggs oder Fish & Chips. Lieber was Leckeres und vor allem abseits der Autobahn.

P. biegt in eine Landstraße ein und fährt an sattgrünen Hügeln, auf denen Schafe weiden, vorbei. Ein friedlicher Samstagmorgen. Nach der nächsten Straßenbiegung ein Landgasthaus. Kleine Fenster mit weißen Spitzengardinen, die Eingangstür leuchtendblau lackiert mit goldfarbenem Türrahmen. Im Innenraum schwere, von tiefen Rissen durchzogene Holzbalken, die 250 Jahre Geschichte stützen.

Auf den eingedeckten Tischen Servietten aus Stoff. P. guckt minutenlang in die Speisekarte, blättert vor und zurück und bestellt bei der Kellnerin Ham & Eggs. Auf dem Parkplatz telefoniert P. mit seiner Frau und wünscht seiner Tochter viel Spaß im Schwimmbad. „Ich bring dir was Hübsches aus England mit, meine Süße. Aber sei schön artig, hörst du. Sonst beißt dir der Papa in den Po, bis er blutet.“

Autobahn Richtung Bristol. Müsste in zweieinhalb Stunden zu schaffen sein. In fünf Jahren will P. ausgesorgt haben. P. ist 45 Jahre alt und bekommt von seinem letzten Boss, für den er als Bauhelfer gejobbt hat, noch 4.800 Mark. P.s Anwalt meinte am Telefon, er soll das vergessen.

P. fährt auf einen Autobahnrastplatz. Die Mittagssonne knallt jetzt vom Himmel, im Wagen steht die heiße Luft. Er will eine halbe Stunde auf der Sitzbank schlafen. Nach zehn Minuten klingelt das Handy. P.s Chef will wissen, wann er am Zielort ist. So schnell wie möglich. Norwegen, das wär‘s für P. Da hat er schon mehrmals mit Frau und Tochter Urlaub gemacht. Am Fjord fischen und das Ding danach sofort auf den Grill. P.s Frau mag keinen Fisch.

Der Himmel hat sich verdunkelt. Es regnet. Die Kühltürme des Kraftwerks sind auf dem flachen Land von weitem zu erkennen. Aus keinem der Türme quillt weißer Dampf. Man wartet auf P. „Ich bin die Kraft, ihr habt das Werk“, feixt P. und fährt zwanzig Minuten später an das geöffnete Hallentor heran. P. reicht dem Ingenieur einen Kasten Bier und ein paar Sportzeitungen herunter. Danke und bis zum nächsten Mal.

Nach dreißig Minuten ist P. unterwegs nach Newcastle, kurz vor der schottischen Grenze. Knapp fünfzig Kilometer weiter ist die Sintflut da. Es ist fast schlagartig dunkel geworden. Gewaltige Regenmassen stürzen aus den Wolken. Die Autos auf der Gegenfahrbahn stehen. P. fährt mit 90 auf der dritten Spur. In der linken Hand eine Zigarette, rechts das Handy am Ohr. Sein Chef drängelt. Die Ingenieure in Newcastle würden Däumchen drehen.

Meterhoch spritzt das Wasser rechts und links von P.s Wagen weg. Vor drei Monaten hat P. sich den fabrikneuen Dreieinhalbtonner zugelegt. Das war Bedingung für den Job. Mit der Abzahlung der Rate ist P. drei Monate im Rückstand. Das zweite Mahnschreiben der Versicherung liegt im Handschuhfach.

Tankstop und Öl nachfüllen. P. vergisst, den Tankverschluss wieder zuzuschrauben. Der Deckel liegt noch auf der Zapfsäule, als P. eine Dreiviertelstunde später wieder zurück ist. Auf einer Koppel zwei Pferde im Gegenlicht. Hochgewachsen stehen sie, einander zugewandt, bis zum Bauch in leuchtend gelben Rapspflanzen. In ihren Mähnen tanzen die Sonnenstrahlen. P. fährt wie in Trance. Die Unterarme abgestützt auf dem Lenkrad. Er freut sich auf die Pubs in Newcastle. Irgendeinen. Nach der Auslieferung wird einer draufgemacht.

P. sitzt seit 33 Stunden hinterm Steuer. P. telefoniert mit seiner Frau, spricht dann mit seiner Tochter. Er versichert ihr noch mal, etwas Tolles in England zu besorgen. „Ich werde ihr ein halbes Brathuhn kaufen, dann hab ich auch was davon.“

Newcastle. Früher Samstagabend. Die schmalen Bürgersteige bevölkert von aufgeregten jungen Leuten. P. umkurvt zum dritten Mal den selben Platz in der Innenstadt. Er muss jetzt doch nach dem Weg fragen. Im Gewerbeviertel, vor der Einfahrt eines düsteren Industriegebäudes, warten zwei junge Maschinenbaulehrlinge aus Deutschland, um P. durch das Gelände zu lotsen. Das frühere Rolls-Royce-Werk ist nun eine Ansammlung scheinbar baufälliger Hallen und Schuppen. Eine verwinkelt angelegte Industrieruine, in deren Bauch neueste Kraftwerktechnik montiert wird. Für P. kein Widerspruch. „Die Engländer lieben doch ihre alten Schuppen.“

Im Waschraum rasiert sich P. mit kaltem Wasser, wäscht sich, zieht ein frisches Hemd an, fährt los und steht eine halbe Stunde später wieder vor dem Kraftwerk. Auf dem schuhkartongroßen Päckchen, das er auf der Ladefläche übersehen hatte, lag seine Reisetasche. Wenig später sitzt P. in einer Vorstadtkneipe an der Bar. Hundert Leute würden hier locker Platz finden, fünf sind da. P. bestellt Guiness und einen Whisky auf Eis. Hier ist heute Endstation.

Auf dem Parkplatz neben dem Pub will P. zum ersten Mal seit seiner Abfahrt aus Berlin ein paar Stunden schlafen. P. trinkt noch drei Guinness und drei Whisky. Er würde am liebsten seine Tochter nehmen und abhauen. P. holt ein kleines Kopfkissen aus seiner Reisetasche und schläft auf der Fahrersitzbank ein. Anderthalb Stunden später friert P. aufrecht hinterm Steuer. Er hat keine Jacke oder Decke mitgenommen, nur ein T-Shirt und das Hawaiihemd, das er anhat. „In Berlin wars doch richtig warm, und ich dachte, jetzt im vereinten Europa ...“ P. lacht, dreht die Heizung an und fährt durch die Nacht nach Süden in Richtung Cottam, dem letzten Zielort.

Langsam wird es hell. Sonntagsstille. P.s Zigarettenkippen landen jetzt in putzigen Vorgärten. In seiner Stammkneipe in Berlin hat P. 5.000 Mark Schulden. P. gibt gern einen aus. Vom Brötchenholen zum Frühstück kommt P. oft erst spät in der Nacht zurück. Dann schläft er auf der Couch. Seine Frau ist da etwas kleinlich, aber sie schafft mit ihrem Job bei der Behörde die Miete ran.

P.s Chef ruft an. Er steht im Stau, fällt P. seinem Boss ins Wort. Er fährt schneller. Das Kraftwerk. Wieder Zeitungen und diesmal eine halbe Stange Zigaretten für den leitenden Ingenieur. P.s Boss meint, das hilft. P. bezahlt die Sachen selbst.

Zurück zur Kanalküste. P. fährt deutlich langsamer, den Ellenbogen im offenen Fenster angewinkelt. Er hält auch schon mal an, wenn er einen Park oder eine alte Villa entdeckt.

Wieder klingelt das Handy. Der Chef. Er hat eine neue Tour für ihn, aber er müsste schnell zurück in Berlin sein. P. drückt aufs Gas. Regen in Dover. Aufgewühlte See. Kreischende Möwen. Stundenlanges Warten. Das Schnellboot buckelt über die Wellen wie ein Rodeoreiter auf einem Bullen. Draußen peitschen der Regen und Gischt an die Fenster. Innen stolpern die Stewardessen von einer Sitzreihe zur anderen. P. strahlt. Ihm ist die Überfahrt noch zu ruhig.

Auf dem Festland, Sonntag, achtzehn Uhr. Es wird dunkel und beginnt zu regnen. Tankstop, Bockwurst mit Kartoffelsalat, weiter. Nach zwanzig Kilometern fährt P. auf einen Parkplatz. Eine Dreiviertelstunde döst er über dem Lenkrad. Dann wieder weiter. Starker Regen. P. reibt sich häufig die Augen. Er übersieht die Abzweigung. Runter von der Autobahn und zurück. Eine halbe Stunde später der nächste Rastplatz. P. schläft im Sitzen ein. Er hält immer häufiger an. Nach vierzig Kilometern, nach achtzig, nach sechzig. P. schafft in zwölf Stunden nur sechshundert Kilometer.

Letzter Halt bei Magdeburg. P. hat in der Tankstelle einen kleinen rosafarbenen Teddybär gekauft. Für seine Tochter. Das Stofftier ist in Zellophan verpackt. Auf einem Aufkleber steht in fetten Buchstaben „Berliner Bär“. Um zwölf Uhr dreißig biegt P. in seine Wohnstraße ein. P. parkt seinen Transporter und bestellt in der Kneipe ein paar Häuser weiter ein Bier. P. fährt seit drei Monaten für seinen Boss vom Kurierdienst. Der hat den Lohn für den ersten Monat einbehalten. Warum, weiß P. nicht so genau. Zur Sicherheit, irgendwie. Das Geld für den zweiten Monat soll P. in vierzehn Tagen erhalten. Gezahlt wird dann im Sechswochenrhythmus, hat der Boss ihm gesagt.

P. hat bisher 4.200 Mark für Fahrtspesen vorgestreckt. Geld von seiner Frau. Nach sechs Bieren geht P. nach Hause. Er war 78 Stunden unterwegs. Vier Stunden später fährt P. mit vollbeladenem Transporter in Richtung Süden. Fahrtziel: Italien.

Heinz-Jürgen Bernhard, 51, lebt als freiberuflicher Autor in Berlin; mit seinem Führerschein Klasse 3 darf auch er Dreieinhalbtonner legal fahren.