Vorher noch ein Bild von Mutti

Täglich erkunden tausende Touristen die Hauptstadt mit dem Sightseeing-Bus. Was interessant aussieht, wird im Kleinbildformat festgehalten. Eine Foto-Safari mit  ■   Susanne Klingner

Eine Viertelstunde vor Abfahrt vom Ku'damm Ecke Fasanenstraße sind auf dem Oberdeck des Doppeldeckerbusses die Hälfte der Fensterplätze besetzt. Wenn schon kein offener Bus, dann doch wenigstens am Fenster sitzen. Kameras werden in Anschlag gebracht, Batterien überprüft und schnell noch ein Foto von Mutti gemacht.

Rund 100 gepolsterte Sitze sind im Sightseeing-Bus so eng hintereinander platziert, dass die Knie am Vordersitz scheuern. Sieben Stadtrundfahrt-Anbieter kutschieren täglich tausende von Touristen durch die Hauptstadt. Die Angebote reichen von Pickup-Bussen, bei denen man an verschiedenen Punkten in Berlin aus- und einsteigen kann, bis zu dreistündigen Mammuttouren.

Diese Riesenrundfahrten gelten als ideal für Berlin-Besucher, die nicht viel Zeit haben, aber trotzdem alles gesehen haben wollen.

Der Bus fährt los. Ein etwa 50-jähriger Mann raunzt seine Frau in einer osteuropäischen Sprache an. Er hat sie ans Fenster gelassen und kann jetzt nicht mehr fotografieren. Dann drückt er ihr den Fotoapparat in die Hand und schläft kurz danach ein.

Im Bus herrscht ein Stimmengewirr aus Deutsch, Englisch, Spanisch und Französich. Etwas vereint alle Nationen: Kompaktkameras aus Fernost. Die haben Namen wie Ixus Z90 Set, TC-1, Riva Zoom 125 EX – ein paar Buchstaben, Zahlen und Bindestriche reichen, und jeder darf sich in dem Glauben wiegen, er halte die ganze Welt der Fotografie in den Händen. Ein leichter Druck auf den Auslöser, den Rest erledigt die Mini-Kamera. Rund 1,6 Millionen Touristen besuchen Berlin jährlich – wenn nur jeder zweite von ihnen einen Film verknipst, sind das fast 30 Millionen Berlin-Fotos, die jedes Jahr irgendwo auf der Welt in irgendwelche Foto-Alben geklebt werden.

„Wenn sie ein Foto machen wollen, tun sie es nach der nächsten Ampel“, tönt die fröhliche Stimme der Reiseführerin aus den Lautsprechern. „Da haben sie einen wunderschönen Blick auf das Charlottenburger Schloß. Wir fahren extra langsam vorbei.“ Wie auf Kommando ratschen Klettverschlüsse. Fotoapparate werden an Fensterscheiben gedrückt, ein gemeinschaftliches Klick, danach leises Motorschnurren.

Der 50-Jährige ist aufgewacht. Er schaut sich um und nimmt dann seiner Frau den Fotoapparat wieder weg. Er will das Olympiastadion fotografieren, sitzt aber auf der falschen Seite. Abwechselnd ärgern sich darüber mal die einen, mal die anderen. Egal. Er stellt sich mitten in den Gang und macht eine Aufnahme über die Nachbarsitze hinweg. Es blitzt – die Aufnahme wird wohl nichts, denn der Blitz wird von der Fensterscheibe reflektiert.

Fotografiert wird alles. Es ist wie auf einer Abschlußfeier: Die Eltern geben sich alle erdenkliche Mühe, schöne Erinnerungsfotos von diesem Tag zu schießen – letzlich sind aber doch nur die Hinterköpfe der vor ihnen sitzenden Menschen zu sehen.

Nur 35 Minuten Pause am Potsdamer Platz. Die Reiseführerin weist auf Mauerreste an einem Zaun hinter der Info-Box hin. Der Bus entlässt die Knipsermeute. Mit ihren kleinen Zoom-Objektiven stürzt sie sich sofort auf das Motiv – das erinnert stark an die Uniformität japanischer Reisegruppen. Zwischen ihnen steht ein Reklametafel: „95% der Bundesbürger wollen sich nicht sagen lassen, was sie sehen sollen.“

Im Souvenir-Shop der Info-Box kann der Berlin-Besucher zwischen 80 verschiedenen Postkarten wählen. Die Motive aber gleichen sich: Potsdamer Platz, Brandenburger Tor, Reichstag, Siegessäule. Vom Berlin-Bild lebt eine ganze Industrie: Zeitschriften und Nachrichtenmagazine nutzen das Brandenburger Tor gerne als Titelmotiv ebenso wie Stadtführer und Stadtpläne. Nicht zu vergessen die Ansichtskarten, die aus der Hauptstadt in die ganze Welt verschickt werden.

Wieder im Bus, werden neue Filme eingelegt. Es geht nach Ostberlin. Als die Reiseführerin auf die Restmauer am Martin-Gropius-Bau hinweist, recken sich die Hälse zur rechten Seite. Jeder will das kleine Stück Geschichte sehen und im günstigsten Fall ein Foto davon haben: Klick, Motorschnurren.

Der Bus fährt weiter in Richtung Brandenburger Tor, vorbei an einer Gruppe Japaner, die sich gegenseitig vor dem Berliner Dom fotografieren. Unter den Linden steht der Bus im Stau. Für die Pause am Brandenburger Tor bleiben nur zehn Minuten. Der Bus parkt ein wenig abseits – das Brandenburger Tor in Sichweite. Das Gedränge beim Aussteigen ist groß. Die Zeit rennt davon. Klick. Schnurren. Schnell geht es weiter, der Reichstag und die Siegessäule stehen noch auf dem Programm.

Nach drei Stunden hält der Bus wieder am Kurfürstendamm. Die Fotogemeinschaft löst sich auf. Ein kurzer Abschied, dann ist die Zeit der gemeinsamen Eindrücke vorbei. Der Busfahrer hat jetzt eine Stunde Pause. Um 14 Uhr startet die nächste Tour.