Schneller, höher, weiter, leiser

■ Mit sanftem Blubbern verzückte der Gitarrist Aniello Desiderio sein Publikum

Vermutlich hat er einen schlechten Charakter. Jedenfalls entschloss sich Aniello Desiderio nach der Pause, einige hispanoide Feuerwerke aus dem Programm zu nehmen und an ihrer Stelle Belanglosigkeiten zu spielen. Machte aber nichts. Denn schon im ersten Teil des Konzertes bewies der 28-Jährige bei der Paganini-Sonata, dass er auf musikalische Substanz nicht angewiesen ist. Wahrscheinlich könnte er sogar „Alle meine Entchen“ als Meisterwerk abendländischer Musikkultur präsentieren.

Einer Harmonik, die sich teilweise auf Tonika, Dominante, Subdominante beschränkt, weiß er, wenn schon nicht Spannung, so doch göttliche Ruhe abzugewinnen. Und bei langweiligen Variationen über ein langweiliges Thema entdeckt er in virtuosen Pflichtübungen ein sanftes Blubbern, quirliges Hochschießen, wieselflinkes Tänzeln.

Viele Klassikfans meiden die Gitarre. Zu leise. Außerdem erlauben die schnell verklingenden Töne keine gebundenen, sehnsuchtsschweren Melodien: Beeinträchtigungen, die Desiderio ausreizt, bis sie umkippen in Qualitäten. Seine Huldigungen an das Pianissimo scheinen die Idee der Homöopathie zu bestätigen: Je niedriger die Dosierung, desto größer die Intensität. Winzigste Veränderungen der Griffhand – eine Verstärkung des Drucks, eine Verlagerung des Vibratos hin zum Bund – werden plötzlich genauso ausdrucksrelevant wie ausufernde bogentechnische Maßnahmen bei einem Geiger. Der Mann muss an einer einzigen Fingerkuppe so viele Nervenzellen herangezüchtet haben, wie sie andere Leute am ganzen Körper nicht tragen. Für das Ohr ist Desiderio, was für das Auge indische Miniaturmalerei ist. Und nach ein paar Minuten Schulung im Wahrnehmen von Nuancen hört sich das Husten in den Pausen an wie Granatendetonationen und das Grummeln im Bauch des Nachbarn wie Nicaraguafälle.

Wandert des Gitarristen rechte Hand nach links Richtung Griffbrett, wird der Klang bekanntermaßen dumpfer. Und plötzlich scheint man in einem neuen hallfreien Raum zu stehen. Zum Herausarbeiten verschiedener Klangschichten und versteckter Mehrstimmigkeit, vor allem bei Joaquin Turina und Paco di Lucia, stehen dem Gitarris-ten aber noch jede Menge anderer Mittel zur Verfügung. Schon bei einer ruhigen Sonate von Domenico Scarlatti erlaubt er sich extreme Rubato-Freiheiten. Und je länger der Abend, desto mehr weiten sich manche Zäsuren zu einer Art von Besinnungspausen.

Doch zum Schluss, bei Morricones Filmmusik zu Tornatores „Cinema Paradiso“, wird er genial schlicht. Gegenüber der alten Gitarrero-Garde um Julian Bream setzt ein Desiderio neue Maßstäbe: schneller, höher, weiter, leiser. bk