Vom Tisch des Zaren in die Regale der Metro

taz-Serie „10 Jahre Mauerfall“: Nach der Flucht vor den Bolschewiki baute sich Sergej Schilkin in Ostberlin ein Schnaps-Imperium auf, wurde enteignet und genießt jetzt die Früchte seiner Arbeit. Warum er den Sozialismus überlebte und im Kapitalismus erfolgreich ist  ■   Von Annette Rollmann

„Ich habe das Rezept in meinem Kinderrucksack über die Grenze geschmuggelt. Das Rezept des Zarenwodkas.“

Sergej Appolonowitsch Schilkin hat keine Angst. Die Zeiten, in denen die Geschäfte schlecht gingen, sind vorbei. Das russische Wässerchen, der Wodka, aber auch Likör und Korn bringen die Schilkin GmbH wieder unter die Leute. Der 84-jährige Geschäftsmann hat es geschafft. Seine Flaschen stehen wieder in den Regalen, so wie zu DDR-Zeiten.

„Wir mussten kämpfen“, sagt er und grinst wie ein Spitzbube, der gute Streiche spielen kann, ohne in tatsächlichen Widerspruch mit Recht und Gesetz zu kommen. Seine Firma in Alt-Kaulsdorf am Rande Ostberlins hat schließlich schon den Sozialismus überlebt. Jetzt, im Kapitalismus, kämpft sie erfolgreich eine ungleiche Schlacht gegen die Großen der Branche.

Zu DDR-Zeiten galten die Schilkin-Spirituosen als Marke. Jetzt sollen sie wenigstens wieder ein Begriff werden. „Wir schaffen das“, sagt der Seniorchef und führt über das Betriebsgelände, das er liebevoll seinen Gutshof nennt. Dass am früheren Herrenhaus die Farbe abgeblättert ist, stört ihn nicht. Sicheren Schritts geht er in blauem, einfach geschnittenem Jackett und schwarzer Anzughose voraus. Der Schlips erinnert an Ostschick.

„Nach der Wende war es sehr schwer“, sagt Schilkin und blickt in der Abfüllhalle durch seine dicken Brillengläser über die 1.500 klirrenden Flaschen, die gerade übers Band laufen. Der Geruch des Alkoholdestillats hängt süßlich in der Luft. Heute wird „Goldbrand“ abgefüllt. Der Weinbrand war in der DDR ein Renner. Bekannt war er im Volksmund unter „Vierzehnfuffzich“, dem Kaufpreis.

„Nach der Wiedervereinigung wollte niemand Ostbrand haben. Der Preisunterschied zu namhaften Produkten aus dem Westen war nur ein paar Mark“, ruft Schilkin gegen den Lärm der Anlage an. „Hier läuft alles automatisch. Doll, nich wahr?“ Er lacht.

Die Schilkin GmbH ist einer der wenigen ostdeutschen Betriebe, die nach der Wende nicht pleite gingen oder von einem westdeutschen Multi aufgekauft wurden. „Heute sitze ich mit den Großen als Ehrenpräsident im Verband der Spirituosenhersteller“, sagt er verschmitzt und zählt die Namen der Kollegen auf, mit denen er sich regelmäßig trifft: Hans Berentzen, Harald Eckes-Chantré, Nicolaus Schladerer.

Schilkin holt auch im Kapitalismus das Beste aus der Zeit. Und Zeiten hat er schon einige Zeiten lang erlebt. Die Schilkin Spirituosenfabrik wurde vor dem Zweiten Weltkrieg von dessen Vater Apollon Fjordorowitsch 1932 in Berlin gegründet. Der hatte damit an seine russische Tradition angeknüpft: Kurz vor der Oktoberrevolution in Sankt Petersburg eröffnete er eine Wodka-Fabrik. Mit Erfolg.

Bald erhielt er die Erlaubnis, den Hof des Zaren Nikolajs zu beliefern. Doch schnell war das Glück vorbei. 1921 musste die Familie vor den Bolschewiken fliehen. „Ich habe das Rezept in meinem Kinderrucksack über die Grenze geschmuggelt. Das Rezept des Zarenwodkas“, erzählt Schilkin. Dabei hebt der kleine Mann stolz das Kinn und nimmt eine förmliche Haltung an. „Der Zarenwodka ist aus dem reinsten Sprit, den man erhalten kann.“ Das Rezept ein Staatsgeheimnis? Seine entschiedene Stimme lässt keine Frage zu. Na ja, wenigstens ein Familiengeheimis: „Es ist der beste Wodka der Welt.“

Mit dem Rezept in der Tasche und den guten Kontakten des Vaters fand sich die Familie schnell in Berlin zurecht. 1932 kauft die Familie das Gelände in Alt-Kaulsdorf, gründet eine neue Fabrik. Dann kam der Krieg. Die Familie verarmte. Der Vater starb 1944. In den nächsten 50 Jahren rettete Sergej Schilkin die Firma durch die Zeit. 1980 ging er in Pension.

Während der sechziger und siebziger Jahre litt die Firma ständig unter dem Problem der Rohstoffbeschaffung. Aber das Unternehmen fand immer einen Ausweg. Es wurde mit allem experimentiert, was da war: Sanddorn, Beeren und Kräuter. Der Leiter der Herstellung, Gerhard Timm, erfand in den siebziger Jahren eine mit Zitrone versehene Wodkavariante, die in der DDR zum Kultgetränk wurde. „Leider verschwand die Spitituose nach der Wende aus den Regalen“, sagt Schilkin und schaut liebevoll auf den Zitronen-Wodka, der nun wieder ein Renner werden soll: Das Produkt ist gerade im Originaldesign wieder neu aufgelegt worden. Unter altem Namen: Timms Saurer.

„Ich war schon zehn Jahre in Pension. Da kam die Wende“, sagt Schilkin. Im April 1990 stellte er einen Antrag auf Reprivatisierung. „Erst war mir nicht wohl dabei. Ich war schließlich schon 74 Jahre alt“, sagt er kokettierend. Aber tatsächlich: Die Geschäfte gingen schlecht. Schließlich griff ihm die Treuhand unter die Arme. Sie übernahm 85 Prozent der Anteile und stellte Investitionen in Aussicht. Doch der Absatz tangierte gen null.

Dann hatte Schilkin Glück. Eines Tages erschien ein westdeutscher Einkäufer der „Metro“ und sagte: „Wieso liefern sie nicht?“ Denn der DDR-Außenhandel hatte mit der „Metro“ einen Vertrag über mehrere Millionen Flaschen „Sershin Vodka Silber“ abgeschlossen. Schilkin entgegnete: „Aber zu den alten DDR-Preisen vor der Währungsunion können wir nicht mehr liefern.“ Ein Missverständnis. Die „Metro“ war bereit, die normalen Listenpreise zu bezahlen.

1991 wurde die Schilkin Spiritiuosenfabrik aus den Händen der Treuhand entlassen, und sämtliche Anteile gingen in die Hände von Schilkin über. Heute arbeiten in dem Unternehmen 50 Mitarbeiter. Hundert mussten in den Jahren nach der Wende gehen. Pro Jahr werden rund 12 Millionen Flaschen abgefüllt, vor der Wende waren es 15 Millionen. Die großen deutschen Hersteller der Branche kommen auf das Zwanzigfache.

Aus dem Tagesgeschäft hat sich Schilkin 1992 zurückgezogen. Das besorgt nun sein Schwiegersohn Peter Mier, ein früherer Personalchef eines mittelständischen Betonunternehmens im Schwäbischen. Dennoch hält er bis heute den größten Anteil an der Firma. Aber das eine ist das Geschäft, das andere ist die Sinnlichkeit. Der alte Schilkin hält es nicht lange aus, nicht über die Qualität seines Wodkas zu sprechen. Mit zärtlicher Melancholie sagt er: „Ich gebe Ihnen eine Rat: Wenn Sie Gäste erwarten, geben sie jedem beim Empfang für die Stimmung ein Glas. Aber nur eins. Alles andere provoziert ungewollte Nebeneffekte.“