Hilft Schule?

Erstwähler laufen zu Rechtsextremen über. Die Kids interessieren sich nicht für Schule – und die Politik genauso wenig  ■   Von Titus Simon

Die jüngsten Wahlen sind gewählt, die Fakten sind bekannt. Neben anderen Entwicklungen im Wahlverhalten wird darüber diskutiert, dass nun die Jugend vermehrt CDU und „ganz rechts“ wähle, dass SPD und Grüne „die Jugend verloren hätten“. Nicht einmal die Wahlgewinnerin PDS konnte ja die ostdeutschen Erstwähler in dem Maße an sich binden wie die 35- bis 60-Jährigen.

In der Tat hat die CDU bei den Jungwählern in Sachsen leicht, in Thüringen erheblich zugelegt. Aber schon die prozentualen Steigerungen bei den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen gehen überwiegend nicht auf einen stärkeren Zuspruch für eine Partei, sondern auf ein anderes Phänomen zurück: Wahlenthaltung. Auch in Thüringen und in Sachsen liegt der Anteil der Nichtwähler bei den Erstwählern über 50 Prozent. Es wäre müßig, über deren politische Gesinnung zu spekulieren. Die reflektierte Wahlenthaltung kann mit vielerlei zusammenhängen: Der generellen Ablehnung des politischen Systems der BRD oder „nur“ damit, dass das „augenblickliche“ Kandidaten- und Parteienspektrum für einen Teil der kritischen Jugendlichen zu wenig Attraktivität besitzt.

Die Stimmenthaltung aber ist nicht alles. Rund 10 Prozent der Erstwähler in Thüringen und in Sachsen haben ihr Kreuz bei NPD, DVU und Republikanern gemacht. Nun wird wieder einige Tage lang heftig darüber diskutiert werden, mit welchen erzieherischen Mitteln Jugendlichen ihre „falsche Gesinnung“ ausgetrieben werden könnte. Dieses Ritual ist seit den Siebzigerjahren vertraut: Besondere Konjunktur hatte es, als 1992 und 1996 über 10 Prozent der schwäbisch-badischen männlichen Jugend zu den Wahlerfolgen der „Republikaner“ in Baden-Württemberg beitrugen; ausgiebig gepflegt wurde es, als die DVU in Sachsen-Anhalt knapp 13 Prozent der Wählerstimmen einfuhr. Das Spektrum der helfenden Vorschläge ist jeweils dasselbe. Es umfasst ungefähr folgende Stichworte: Lehrstellen, Wertevermittlung, schulische und außerschulische Jugendbildung, Stärkung der Familien, mehr Jugendarbeit und Streetwork, mehr Fleiß und Ordnung.

Im Moment ist es wieder die Schule, die in besondere Verantwortung genommen wird. Sie müsse korrigierend eingreifen. Überhaupt sei mehr Bildung vonnöten, hätten doch die jüngsten Wahlen gezeigt, dass weniger Gebildete anfälliger für rechte Parolen seien.

Nun weiß man aus der Sozialforschung sehr gut, dass die Herausbildung autoritärer und gewaltorientierter Persönlichkeitsprofile durch ein ganzes Bündel an Faktoren beeinflusst wird: primäre Sozialisationserfahrungen in der Herkunftsfamilie, außerfamiliäre Erziehungseinflüsse in Kindergarten, Hort und Schule, politische Großwetterlagen, Einfluss der altersgleichen Gruppen oder Cliquen, Medien, versagte berufliche Chancen und unbewältigte Ohnmachtserfahrungen in unterschiedlichsten Lebenssituationen.

Versucht man diese Einflussgrößen in eine Rangfolge zu bringen, müsste man fragen: Was zählt Schule überhaupt? Aus der Konsumforschung wissen wir, dass die speziellen Konsummuster von Kindern und Jugendlichen primär durch die sozial-strukturellen Merkmale der Herkunftsfamilie entwickelt werden. In zweiter Linie ist die Gleichaltrigengruppe prägend. Sie vermittelt Informationen über Qualität, Prestige, Standards. An dritter Stelle stehen die Medien. Erst nach diesen drei Haupteinflussgrößen gibt es Korrekturmöglichkeiten durch die Sozialisationsinstanzen Schule und außerschulische Jugendarbeit.

Allgemein gesagt werden kann, dass sozialpädagogische Hilfen mit Blick auf langfristig entstandene Dispositionen meist zu spät, zu reaktiv, zu wenig umfassend und zu wenig abgestimmt erfolgen. Das führt dann nicht selten dazu, dass ganze Horden von SozialarbeiterInnen die besonders auffälligen Jugendlichen geradezu „verfolgen“.

Für die Herausbildung rechter Orientierungen kann eine Rangfolge der Einflussgrößen nicht so präzise bestimmt werden. Deutlich ist aber, dass ein familiäres Milieu, in welchem Konventionalismus, Unterwürfigkeit, autoritäre Aggression, Machtstreben, Vorurteile und Ethnozentrismus dominieren, wesentlich zur Ausprägung von nazistischer Gesinnung und Gewaltorientiertheit beiträgt. Gerade für männliche Jugendliche aus derartig strukturierten Herkunftsfamilien haben Gleichaltrigengruppen, in denen Größenfantasien ausgelebt werden können, eine wichtige Sozialisationsfunktion. Die Clique reguliert die im Alltag erfahrene Ambivalenz von Macht und Ohnmacht. Sie schafft Solidarität, verhindert Ohnmacht nach außen und bildet kleine Territorien der Macht.

Ohne Bernd Wagners Beobachtungen über „national befreite Zonen in Ostdeutschland“ ohne weiteres zu bestätigen, bleibt festzustellen, dass sich vor allem über Cliquen- und Szenebildungen eine breite rechte Alltagskultur ausgebreitet hat. Interessant ist nun, dass dieser Prozess auch vor besser Gebildeten nicht Halt macht. Zumindest der männliche Teil vieler Gymnasialklassen hört – weil es alle hören – „Lanzer“. Die Klassenfahrt nach Prag wird dazu genutzt, sich bei fliegenden Händlern rasch mal all jene CDs zu besorgen, die in Deutschland auf dem Index stehen. Eltern und Lehrer reagieren mit Wegsehen oder aber mit schriller Empörung – die den Spaß an dererlei Gewohnheiten noch vergrößert.

Die deutsche Schule ist ein Ort des Mangels

Statt nun den Alltag des Aufwachsens von Kindern und Jugendlichen zum Ausgangspunkt für eine gelingende Sozialisation zu machen, kommt es in Phasen zugespitzter Debatten um „Gewalt“ und „Rechtsradikalismus“ meist zu der Begründung: Sozialpädagogische Spezialprogramme seien unzureichend. Zu akzeptierender Jugendarbeit mit rechten Jugendcliquen gibt es keine Alternativen.

Gleichwohl lässt sich am Beispiel der Städte Halle und Magdeburg feststellen, dass die dort installierten Projekte höchsten 5 bis 10 Prozent der jungen Erwachsenen erreichen, die 1998 die DVU gewählt haben. Ein Großteil jugendlicher wie auch erwachsener Rechtswähler ist eben nicht auffällig genug, dass er zur Klientel sozialer Arbeit würde.

Also: Doch mehr „sinnvolle Maßnahmen“ in den Schulen, weil da „alle erreicht“ werden? Das wäre nicht falsch. Doch ich bin fest davon überzeugt, dass es – wie seit den „Halbstarkenkrawallen“ der Fünfzigerjahre – bei einer oberflächlichen Debatte bleiben wird. Bestenfalls wird es einen vagen Erlass des einen oder anderen Kultusministeriums geben.

Dagegen steht eine krasse Alltagswirklichkeit ostdeutscher Schulen: Die Schulbauten stammen häufig noch aus Kaiser Wilhelms, Adolf Hitlers oder Walter Ulbrichts Zeiten und warten – anders als die vielen Kauflandschaften – noch immer auf Sanierung. Die Ödnis der Schulhöfe wirkt objektiv gewaltfördernd. Überalterte Kollegien, die lieber frontal unterrichten, als sich in Projektarbeit auf einen viel unmittelbareren Kontakt zu den Jugendlichen einzulassen.

Ein solches Bild übersieht gewiss einzelne real existierende modellhafte Schulprojekte und ernsthafte Bemühungen mancher Lehrerinnen und Lehrer. Aber ich glaube nicht, dass sich ein flächendeckendes „Schule neu denken“ so vollzöge, dass es soziales und politisches Lernen an Schulen tatsächlich möglich machen würde. Genau daran aber mangelt es. Wer über authentische Lernprozesse nachdenkt, müsste zuallererst die Schule als Lernort wieder attraktiv machen und müsste, zusammen mit den Jugendlichen, Schulbauten und ihr Umfeld so gestalten, dass von diesen nicht bereits strukturelle Gewalt ausgeht. Er müsste dafür sorgen, dass Schule als „Ort gelebter Demokratie“ funktioniert – das heißt echte Mitwirkungsmöglichkeiten für Kinder und Eltern ermöglicht.

Schule aber ist in Deutschland nicht Ausgangspunkt positiver gesellschaftspolitischer Veränderungen, sondern Ort des Mangels.

Der Autor ist Professor an der FH Magdeburg und befasst sich seit vielen Jahren mit dem Thema Jugend und Gewalt. Zum Beispiel in „Raufhändel und Randale“, einer Sozialgeschichte aggressiver Jugendkulturen vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart (Juventa, 1996). Bei Elefanten Press erscheint kommendes Jahr „Der Stadionmörder“, der zweite Krimi von Titus Simon.