Ohne Ohrwürmer

■ Satire, Glamour und all der Jazz: Im Theater des Westens soll „Chicago“ an große amerikanische Broadway-Musicals anknüpfen

Der Anfang lässt Schlimmes ahnen. Eine Conférenciere in schwarzer Reizwäsche lädt marktschreierisch ein zu einer Show über „Mord und Korruption, Habgier und Gewalt, Ehebruch, Verrat und Ausbeutung“, kickt mit dem Füßchen und geht ab. „Schülertheater!“, brummt meine Nachbarin. Dennoch erfüllen Neugier und Skepsis die aufgeputschten Zuschauer, denen es gelang, Karten für die Premiere von „Chicago“ zu ergattern. Der Broadway-Import ist das erste Stück im Theater des Westens, das über ein halbes Jahr lang en suite laufen muss, und zugleich die Visitenkarte des neuen Intendanten Elmar Ottenthal.

Kaum aber hebt sich der Vorhang, ist der lahme Prolog schon vergessen. Den größten Teil der Bühne füllt die Tribüne für das kleine Jazz-Orchester aus, im freien Raum davor und dazwischen wird gespielt. Und vor allem getanzt! Die Amerikanerin Ann Reinking hat „Chicago“ sehr sexy im Stil Bob Fosses choreographiert, der bei der New Yorker Uraufführung 1975 Regie führte. Da ist keine Spur von symmetrischem Beineschwenken à la Friedrichstadtpalast – jeder Darsteller tanzt seine eigene Choreographie, und doch harmoniert das Ensemble perfekt.

„Chicago“ spielt in einem Frauengefängnis der 20er-Jahre. Roxie Hart (Frederike Haas) hat ihren Liebhaber erschossen und muss nun um ihren Hals fürchten – ebenso wie die Vaudeville-Tänzerin Velma (Anna Montanaro) und vier andere charmante Häftlinge. Rettung verheißt der elegante Anwalt Billy Flynn (Cusch Jung) mit seinen hervorragenden Kontakten zur Boulevardpresse. Erbittert kämpfen Roxie und Velma um die beste Herz-Schmerz-Story. Mit einer erfundenen Schwangerschaft hat Roxie schließlich die Nase vorn und verwandelt den Gerichtssaal in eine Zirkusarena. Natürlich werden die beiden Hübschen freigesprochen und können nun gemeinsam eine Vaudeville-Show aufziehen.

Die Satire auf die Massenmedien und das manipulierbare amerikanische Justizsystem beruht auf einem tatsächlichen Fall, den eine Gerichtsreporterin 1926 in ein Theaterstück verwandelte. In der Musicalversion dient die Story vor allem dazu, wie in einer Revue die einzelnen Nummern zusammenzuhalten. Nun herrscht in Berlin wahrlich kein Mangel an Musical-Produktionen, doch „Chicago“ stößt in eine echte Marktlücke. Wo der „Glöckner von Notre-Dame“ mit viel High-Tech und schlechter Musik eine sentimentale Story abspult, kommt „Chicago“ fast ohne Bühnenbild aus und setzt ganz auf schwarzen Humor, Verfremdung und die hervorragenden Darsteller. Und auf die Musik des „Cabaret“-Komponisten John Kander, die zwar kaum Ohrwürmer bietet, aber soliden Jazz. Bei aller satirischen Schärfe hat diese Inszenierung außerdem etwas, worauf moderne Musicals wie „Linie 1“ oder das „Wunder von Neukölln“ verzichten müssen und das Berlin doch so dringend braucht: ein bisschen echten Glamour.

Miriam Hoffmeyer
‚/B‘ Bis 11. April 2000 dienstags bis sonntags 20 Uhr, sonntags auch 15 Uhr, im Theater des Westens, Kantstraße 12