Züchtungsfantasien

Die Debatte um Peter Sloterdijks „Menschenpark“ verdeckt, dass die Humangenetiker sich seit längerem schon für die Keimbahnveränderung einsetzen  ■   Von Rainer Hohlfeld

Die Auseinandersetzung um Peter Sloterdijks „Menschenpark“ richtet den Scheinwerfer der Aufmerksamkeit auf einen Nebenschauplatz. Auf der Hauptbühne wird die Debatte von denen neu entfacht, die die biotechnischen Voraussetzungen für eine Veränderung des menschlichen Erbgutes und damit für eine Menschenzüchtung schaffen: Molekularbiologen und Reproduktionsmediziner.

In Interviews in der Süddeutschen Zeitung haben sich in den letzten Monaten zwei Wissenschaftler vom Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin (MDC) in Berlin-Buch zu Wort gemeldet, sein Direktor Detlev Ganten und Jens Reich, die, wenn auch zurückhaltend und vorsichtig, für eine Enttabuisierung des Themas „Eingiffe in die menschliche Keimbahn“ plädieren.

Damit ist jene Übertragung von Genen in die befruchtete Eizelle (Zygote) oder das Einbringen von genetisch veränderten Zellen in frühe embryonale Entwicklungsstadien (Blastozysten) gemeint, die die gesamte genetische Ausstattung des zukünftigen Individuums, also auch seine zukünftigen Keimzellen – daher der Begriff „Keimbahn“ –, verändern. In Tierversuchen resultieren daraus transgene Schafe, Kälber oder Mäuse. In der aktuellen Debatte geht es um den transgenen Homo sapiens.

Durch solche gentechnischen Eingriffe sollen zunächst Erbkrankheiten geheilt werden, aber auch die Schaffung lebenslanger Immunität vor gegenwärtig noch unheilbaren Krankheiten, wie zum Beispiel Malaria oder Aids, und eine lebenslange Krankheitsprophylaxe wird erwogen. Sie hatte der amerikanische Mediziner und Pionier der somatischen Gentherapie, W. F. Anderson, schon 1985 beschrieben: „Wenn die zukünftige Forschung zeigen sollte, dass eine erhöhte Anzahl von Low-Density-Lipoprotein-(LDL)-Rezeptoren auf der Zelloberfläche zu niedrigeren Cholesterolwerten im Blut führen sollte und, als Folge davon, zu einer Abnahme von Herzattacken und Schlaganfall, dann könnte das Einsetzen eines zusätzlichen LDL-Rezeptorgens in 'normale‘ Individuen signifikant die Morbidität und Mortalität, verursacht durch Arteriosklerose, senken. In einer solchen Konstellation wäre der Zweck der Intervention die Prävention der Krankheit, nicht einfach der persönliche Wunsch eines Individuums nach einer veränderten Charakteristik.“

Auch gegenwärtig ist die amerikanische Diskussion Vorreiter in Sachen Enttabuisierung. So hatte im März 1998 eine Gruppe von Molekularbiologen auf einer Konferenz in Los Angeles in einer Resolution, die im Juni dann über Internet verbreitet wurde (http://www.ess.ucla.edu:80/huge/report), gefordert, die ethischen Tabus endlich zu beseitigen, die einer Keimbahntherapie immer noch im Wege stehen.

Lee Silver, Molekularbiologe aus Princeton, war auf dieser Konferenz und ruht seitdem nicht mehr, den neuen Weg des Menschengeschlechts als „Das geklonte Paradies“ zu propagieren. Es geht dabei um „künstliche Zeugung und Lebensdesign im neuen Jahrtausend“. Lee Silver hielt auch in Deutschland mehrere Vorträge – einen davon am Berliner MDC – und verkündete „lediglich als neutraler Beobachter der Entwicklung“, wie er sich selbst beschrieb, dass die etwas antiken Europäer sich mit dieser zukünftigen Entwicklung vertraut machen müssten.

Und er geht einen Schritt weiter in die kosmetische Genchirurgie, bei der keine medizinische Indikation mehr vorliegen muss. Er macht also den Schritt in die positive Eugenik. In einer neoliberalen Gesellschaftsordnung wie der amerikanischen, wo jeder frei über sein persönliches Glück oder Unglück entscheiden könne und es für alles einen Markt gäbe, sei diese Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Wer und mit welchem Recht würde es wagen, Eltern in Zusammenarbeit mit Reprogenetikern in Zukunft ihr Wunschkind und dessen genetische Nachbesserung (genetic enhancement) als genetische Mitgift für den sozialen Wettbewerb zu verweigern? Was daran könne falsch sein?

Und sein Kollege, der Humanbiologe Sander Gilman, plädierte in einem Vortrag auf dem Einstein-Forum in Potsdam zu Gunsten der Vorreitertechnologie, der kosmetischen Chirurgie, die Stimmung auf dem amerikanischen Gesundheitsmarkt charakterisierend: „Ich möchte mich selbst umgestalten, um glücklich zu werden – what can you say against it?“

Silver grenzt sich zwar – sensibel spürend, in welchem Kontext er sonst verortet würde – gegen die staatliche Eugenik ab: „Eugenik basiert auf der Idee, dass ein Staat oder die Gesellschaft bestrebt sein sollte, durch Fortpflanzungskontrolle den Genpool zu verbessern. Reprogenetik basiert auf der individuellen Wahl von Eltern. Eugenik schränkt individuelle Freiheit ein; Reprogenetik vergrößert sie. Reprogenetik wird von zukünftigen Eltern eingesetzt werden, um die Chancen ihrer Kinder auf Gesundheit, Glück und Erfolg zu vergrößern. In Amerika fragen die Leute: 'What could be wrong with that?‘“

Doch abgesehen davon, dass seine suggestive Semantik, in der er das Glücksversprechen preist, die Neutralität einer wissenschaftlichen Beobachtersprache weit hinter sich lässt, ist zunächst einmal irreführend, dass eine eugenische Maßnahme nur über die Täterschaft definiert wird. Ob totalitärer Staat oder Eltern, die Veränderung eines genetischen „Make-up“ ist eine Zwangsmaßnahme gegenüber Wehrlosen und Ungefragten, eine Verletzung der körperlichen Unversehrtheit und damit in der Tat positive Eugenik. Sie aber ist zumindest gegenwärtig mit dem Prinzip der personalen Autonomie der europäischen Aufklärung, das verfasssungsrechtlich im Prinzip der Menschenwürde verankert ist, nicht vereinbar.

Auch wenn das „autonome Elternrecht“ das Doping von Kindern mit Wachstumshormonen nicht explizit verbietet, überschreitet die positive Eugenik diese zwielichtige Grenze bei weitem. Dafür brauchen wir auch keine neue Ethik, wie mancherorts gefordert wird; die alten humanen Prinzipien reichen zur Beurteilung der inhumanen Entwürfe der neuen Reprotechnik aus. Aber Diskussionsbedarf besteht dennoch: Der intellektuell-moralische Nebel, der die neuen Techniken einhüllt, bedarf einer Lichtung. Gerade deswegen hat hier der Deutsche Bundestag, beziehungsweise dessen parlamentarische Geschäftsführung, ein fatales Zeichen gesetzt, als sie die geplante Enquetekommission zu Fragen der Bioethik vor drei Wochen kippte.

Gegen die Vorstufen zur positiven Eugenik, die ich anfangs zitierte, gibt es wissenschaftliche und politisch-pragmatische Gegenargumente. Zu den wissenschaftlichen Einwänden zählen die Risiken des Eingriffs. „Das Ergebnis der Veränderung einer Keimbahn lässt sich nicht vorhersagen. Missbildungen oder Totgeburten wären möglich“, gibt Detlev Ganten in dem erwähnten Interview zu bedenken. Und Jens Reich bezweifelt, ob komplexe Merkmale genetisch determiniert seien. Es mehren sich bei der biologischen Funktionsanalyse von DNS-Sequenzen aus dem menschlichen Genomprojekt und bei entwicklungsbiologischen Experimenten die Hinweise, dass die biologische Funktion von Genen hochgradig von Milieufaktoren (Kontext) abhängig und damit epigenetisch bestimmt ist. Kontexte jedoch entziehen sich der molekularbiologischen Konstruktion. Auch das Anderson-Konzept der lebenslangen Krankheitsprävention setzt ein weitgehend monogen determiniertes Krankheitsgeschehen voraus. Es häufen sich auch hier die Hinweise, dass dies die extreme Ausnahme bildet.

Ein weiterer Einwand ist, dass gentechnische Eingriffe in Zygoten und Blastocysten immer eine aufwendige, strapaziöse (für die Mutter) und kostspielige Retortenbefruchtung voraussetzen, sodass wohl schon aus diesem Grunde die Idee einer Malariaprophylaxe für drei Millionen Afrikaner oder für andere prophylaktische populationsgenetische Maßnahmen ausgeträumt sein dürfte – was allerdings nicht für den Fall der individuellen Familienplanung der besserverdienenden Bevölkerung gilt.

Für den Fall der schweren Erbkrankheit – so ein weiteres die guten Gründe relativierendes Argument – gibt es die Möglichkeit der Blastozystenselektion vor der Embryoimplantation in die Gebärmutter, was jedoch eine Präimplantationsdiagnostik voraussetzt.

Ich halte angesichts der spärlichen Hinweise auf wirklich überzeugende medizinische Indikationen immer noch das politisch-pragmatische Argument für wegweisend, welches die Enquetekommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie“ des Deutschen Bundestages 1985 einstimmig verabschiedete: Die reprogenetische Weiterentwicklung der Möglichkeiten einer Keimbahn-Gentherapie oder präventiven Keimbahnveränderung ist der Türöffner für eine positive Eugenik, so wie sie Silver beschreibt. „Wo nur der Erfolg zählt, wird die Menschenwürde vieler verletzt“, heißt es im jüngsten Papier der SPD-Grundwertekommission. Und das gilt ganz besonders für jede Form einer genetischen Politik.

Der Genetiker und Wissenschaftssoziologe Rainer Hohlfeld arbeitet an der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften. Von 1985 bis 1986 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter bei der Enquetekommission des Deutschen Bundestages „Chancen und Risiken der Gentechnologie“.