„Ein Kack und eine Krone“

Zwölf Stunden Shakespeares Rosenkriege: Tom Lanoyes und Luk Percevals Schlachten! eröffnet die 100. Schauspielhaus-Saison  ■ Von Ralf Poerschke

William Shakespeares „Rosenkriege“ behandeln die Zeit zwischen 1398 und 1485, da die Häuser York („Weiße Rose“) und Lancaster („Rote Rose“) in blutigem Streit miteinander lagen. Mit dem aus Schwäche abdankenden Richard II. nehmen die Dramen – in der historischen Chronologie, nicht in der Reihenfolge ihrer Entstehung – ihren Anfang, und sie schließen mit dem Tod des rücksichtslos brutalen Richard III., besiegt von Richmond aus dem Hause Tudor, welcher als Heinrich VII. den englischen Thron besteigt. Er ist der Großvater von Shakespeares Königin Elisabeth, deren Nachfolge ungesichert ist.

Shakespeare beginnt 1590 mit King Henry VI, schwimmend auf einer Welle nationaler Euphorie – 1588 war die spanische Armada vernichtend geschlagen worden, England endlich eine selbstbewusste Großmacht – und geschichtlichen Interesses, aber warum thematisiert er ausgerechnet die dunkelste Epoche in seinen Königsdramen? Wohl in dialektischer Absicht: um die glorreiche Gegenwart noch heller erscheinen zu lassen. Ein Trugbild freilich, aber das ist eben (politisches) Theater.

Nicht ohne Grund widmete Volksbühnen-Chef Frank Castorf das Goethe-Jahr zum Shakespeare-Jahr um und zeigt noch bis Ende 1999 in Berlin die Rosenkriege, Stück für Stück: Es geht ihm um die „sogenannte ursprüngliche Akkumulation Ädes KapitalsÜ, die gewalttätige Zurechtmachung der Welt für die industrielle Revolution“. Castorfs Kronzeuge heißt Marx. Dem Autor Tom Lanoye und dem Regisseur Luk Perceval geht es bei ihrem Rosenkrieg-Projekt Ten Oorlog (wörtlich: „Zum Krieg“), das am Sonnabend unter dem Titel Schlachten! die hun- dertste Spielzeit des Deutschen Schauspielhauses zu Hamburg einläutet, mehr um die zwischenmenschlich-psychologischen Funktionsweisen von Macht. Der Kronzeuge der beiden Belgier hieße mithin Freud. Aber damit sei nur ein Intentionsstrang angegedeutet, dessen Tragfähigkeit sich zudem in der Inszenierung zu zeigen hat; am Anfang steht das Stück, es ist im Grunde ein einziges, dreihundert Seiten stark, und es handelt sich um ein Meisterwerk.

„Wenn man alle acht Stücke auf Englisch liest, sieht man sofort, dass es enorm viel Material und obendrein ziemlich verwirrend ist. Alle Hauptpersonen schienen Edward oder Henry zu heißen“, sagt Tom Lanoye über den Beginn der Arbeit zu Schlachten!. Der 1958 in Sint-Niklaas geborene Autor hat den Shakespeare-Stoff zu sechs Dramen in chronologischer Folge verdichtet, Transparenz und Verständlichkeit der Handlungsstruktur in toto besaß Priorität. Das Low-Life-Personal – bis auf Falstaff natürlich – warf Lanoye hinaus, und auf die realhistorischen Bezüge verzichtete er gänzlich sowie auf das Kriegsgeschehen so weit möglich, denn „die Kämpfe finden in der Sprache statt, die wichtigsten Gefechte sind Schlachten mit Worten“.

Lanoye hat Shakespeares Sprache – nach den notwendigen Grobarbeiten mit „Abbruchhammer und Kettensäge“ – gleichsam übermalt, mal eng am Vorbild, mal weit und wild über es hinausschießend. In Richard Deuxième schlagen noch regelmäßige Blankverse einen beinahe weihevollen Ton an, in Heinrich 4 dominiert der schon etwas handfestere Paarreim, und in Der Fünfte Heinrich und Margaretha die Napoli beginnt langsam Umgangs- und Vulgärsprache sich Bahn zu brechen. In Eddy the King hantiert dann die York-Gang mit einem kruden Gemisch aus Deutsch (beziehungsweise Flämisch im Original) und härtestem amerikanischen Slang, was am korrekten Versmaß derweil immer noch nicht rüttelt (Eddy zu Margaretha: „Du Schlabberfud, go fok your Meute Memmen:/ Dein Fohln, dein'n Hengst und dein'n kastrierten King!“).

Erst Richard III. im Schlussteil Dirty Rich Modderfocker der Dritte entgleiten die Wörter vollends, und nicht nur der Vers, sondern die Sprache insgesamt fällt der Zersetzung ahheim in seinem wutschäumenden Mund: „godblooddiemodderfokking fauliges vermodern of alabaster arms voll mark und innocence... so blow it... modderfocking... virgin ass... voll suck my dick gedanken ausgekotzt...“, schluchzt Dirty Rich, während er in den kindlichen Kadavern der ermordeten Kronprinzen Eddy und Richard wühlt. Wie Lanoyes Sprache – schier brillant übersetzt von Klaus Reichert und Rainer Kersten – die Königs-Genealogie in ihrer Gesamtheit überformt und gleichzeitig fundiert, ist so einfach wie effektvoll und im Detail bisweilen genialisch. Hier wird ein monumentaler Bogen geschlagen: nicht allein über eine erzählte Zeit von fast hundert Jahren, sondern auch theatersprachgeschichtlich von den Elisabethanern bis zu Werner Schwab.

Auf der Bühne wird Schlachten! als „große Geschichte“ allein schon durch die Länge der Aufführung zu einem Erlebnis der antizyklischen Art: Dass der Zuschauer auch nur annähernd zwölf Stunden im Theater sitzt, hat schon ewig kein Regisseur mehr verlangt (wobei die He-rausforderung für die insgesamt lediglich 15 Schauspieler selbstredend eine ungleich größere ist; Roland Renner, Wolgang Pregler und Andreas Grothgar etwa sind die ganze Zeit über in wechselnden tragenden Rollen dabei). Doch die Erfahrungen aus Salzburg, wo Schlachten! im Sommer deutschsprachig erstaufgeführt wurden, zeigten, so Festspiel-Leiter und Schauspielhaus-Intendant Frank Baumbauer, dass das Publikum die Komplett-Veranstalungen den ge-splitteten vorzögen. Jedenfalls kann man auch in Hamburg zwischen zwei Varianten wählen, und für die anderthalbstündige Pause bieten diverse Restaurants in Schauspielhaus-Nähe spezielle Speisen, wenn auch keine Schlachtplatten an.

Auf den Salzburger Festspielen wüteten die Fehden um einen „Kack und eine Krone“ (Eddy the King) auf der Perner-Insel in Hallein, in einer riesigen Theater-Fabrikhalle, und Luk Perceval hatte ernsthaft befürchtet, die damit einhergehenden akustischen Probleme nicht in den Griff zu bekommen. Die dortige Inszenierung geriet ihm deswegen viel kämpferischer als geplant, aber für die Aufführungen in der „Intimitität des Schauspielhauses“ verspricht der Regisseur „mehr Leichtigkeit“.

Premiere: Sa, 2. Oktober, 11 - 23 Uhr, Deutsches Schauspielhaus