Und immer „links, was sonst?“

Vom Hunger nach Gerechtigkeit, der „kleinen und hässlichen“ Friedensbewegung und der Dankbarkeit über einen schönen September: Heute wird die Hamburger Theologin Dorothee Sölle 70  ■ Von Heike Dierbach

Dorothee Sölles ältester Enkel hatte seinen Konfirmationsspruch selbst ausgesucht: „Selig sind, die nach Gerechtigkeit hungert und dürstet.“ Der „etwas dusselige“ Pfarrer, erzählt Sölle, sagte dazu: „Das verdanken Sie ja wahrscheinlich der Familie.“ Das sei natürlich das Blödeste, was man einem Konfirmanten sagen könne. Die Institution Kirche, seufzt die Theologin, ist ihr bei ihrem Bemühen, ihre vier Kinder christlich zu erziehen, immer wieder in den Rücken gefallen.

In dem gusseisernen Kaminofen im Wohnzimmer liegt frische Asche. Am ersten kühlen Morgen dieses Herbstes haben sie ihn angezündet, erzählt Dorothee Sölle und nimmt in einem blauen Sessel in der Sitzecke am Fenster Platz. Dem Design nach stammt er aus den Siebzigern, wie auch die geschwungenen Stühle, die sich um einen großen Esstisch drängeln. Mitten im Raum lacht ein Schaukelpferd die Besucher an. Es gehört der dreijährigen Charlotte: Sölle und ihr Mann leben in ihrem Haus in Othmarschen zusammen mit Tochter, Schwiegersohn und Enkelkind. Dass sie heute siebzig wird, „lässt sich wohl nicht verhindern“, hat die Theologin am Telefon gesagt. Hadert eine, die sich noch mit 59 Jahren vor die Tore eines US-Giftgasdepots setzte, mit dem Älterwerden? Sölle lacht: „Nein, nur der Rummel stört mich – aber das ist wohl meine intellektuelle Arroganz.“

Dorothee Sölle ist eine von denen, die immer seltener werden. Eine, die in einem Nebensatz erklärt, dass die Zahl der Millionäre und die der Obdachlosen zusammengehören. Die sich 1979 am Tag der Nato-Entscheidung für die Nachrüstung schwor, „den Rest meines Lebens für den Frieden zu geben“. Die heute fragt, „ob denn jemand im Ernst meint, wir könnten ohne Hunger nach Gerechtigkeit leben?“ Eine Frau und immer „links, was sonst?“ Deshalb, so ihre Analyse, wurde sie in Deutschland lange nicht Professorin. Bekannt wurde Sölle dennoch durch ihre Bücher, in denen sie für eine politische und feministische Befreiungstheologie plädierte.

Den daraus gewachsenen guten Namen nutzte sie unter anderem, um unzähligen Offenen Briefen mit ihrer Unterschrift gesellschaftliches Gewicht zu verleihen. Gegen die atomare Aufrüstung, für die Zusammenlegung der RAF-Gefangenen, für einen Siemens-Boykott. Zuletzt 1997 in der Erfurter Erklärung für den Regierungswechsel. „Wir hatten damals die Hoffnung, der nationale Staat könne noch etwas verändern.“ Jetzt aber sei die Herrschaft der multinationalen Konzerne unwidersprechlich geworden, die Parteien würden unbedeutend. „Ich ertappe mich selber bei einer fast pro-Adenauerschen Nostalgie“, sagt die Theologin, „der rheinische Kapitalismus war ja doch noch etwas anderers als diese neue Gestalt der Ausplünderung, der Neoliberalismus.“ Nein, diesen Politikwechsel hatten sie mit der Erfurter Erklärung nicht gemeint.

Den Ausbruch des Kosovo-Krieges erlebt Sölle auf Kreta. Als sie zurück nach Deutschland kommt, ist sie erschüttert, wieviele Leute, „die ich eigentlich sehr schätze“, umgekippt sind. Muss erkennen, dass die deutsche Friedensbewegung wieder „klein und hässlich“ ist. Wie kann frau da nicht verzweifeln? „Wir Christen kennen das seit 2000 Jahren, dass eine richtige Idee zerstört wird und immer wieder ausgegraben werden muss“, schildert Sölle, lebhaft gestikulierend, „damit tröste ich auch meine sozialistischen Freunde: Nehmt das nicht so ernst. Wir machen trotzdem weiter.“ Doch zum Krieg meldete sich die „relative Pazifistin“ kaum zu Wort: „Ich hatte ja die Hauptphase verpasst.“ Auch sei sie in den Medien seit der Wende nicht mehr sehr gefragt – „und Bücher sind nun einmal ein Minderheitenmedium.“

In Sölles Wohnzimmer haben sie, eine komplette Wand schmückend, die Mehrheit. Über 30 Bücher und Gedichtbände hat sie veröffentlicht. „Die Arbeit meiner Generation hat Früchte getragen“, resümiert die Frau mit den Lachfalten. Zum Beispiel habe sich in vielen Kirchen ein neuer Begriff der Sünde herumgesprochen: „Was mich von Gott trennt, ist nicht das Bett. Es sind die Züge, die nach Auschwitz rollen, und genauso die Handelsbestimmungen, die meine Geschwister in Afrika verrecken lassen. Das ist Sünde. Das muss man laut machen.“

Die „olle Kirche“ ist für Sölle dabei „nichts weiter als eine Nichtregierungsorganisation“ (NGO). Sie und andere NGOs sind auch der Grund, warum sie sich in Deutschland zu Hause fühlt – manchmal: „Zum ganz zu Hause fühlen fehlt zuviel an Glück, an Wahrheit, an Frieden, an Geschwisterlichkeit.“

Seit der Fertigstellung ihres Hauptwerkes Du stilles Geschrei. Mystik und Widerstand Anfang 1998 nimmt Sölle wieder Klavierstunden und singt im Kirchenchor. Sie möchte in Zukunft weniger Vorträge halten, mehr Zeit haben, zum Beispiel, um ihrer Enkelin Märchen zu erzählen. Eine „Lebensdankbarkeit“ würde sie ihrer Familie gern mitgeben. Dass sie manchmal Gott loben. Nicht immer – „das tun nur Schwätzer und Höflinge“ – aber hin und wieder.

Dorothee Sölle hält kurz inne und blickt durch das große Fenster in den Garten: „Wenn der September so schön ist wie dieser. Und die Pflaumen so gut schmecken.“