■ Pampuchs Tagebuch
: Das Elend der Modernisierung ist die Modernisierung des Elends

Ein Schlüsselthema unserer Welt im Allgemeinen und des Computerwesens im Besonderen ist die Ungleichzeitigkeit. So reizvoll es wäre, sich hier über das „Asynchrone in der Kultur“, mit so interessanten Untersparten wie Musik, Literatur, Film und Sexualität, zu verbreiten, wir halten inne und denken an den Redakteur dieser Seite – der will ja immer was zu Internet und Computer. Wohlan: Das Phänomen Ungleichzeitigkeit, das Nebeneinander von Alt und Neu, ist gewissermaßen ein Konstituens aller Arten von elektronischer Datenverarbeitung. Dabei muss man gar nicht das globale Auseinanderklaffen von elektronischen Haves and Have-nots bemühen. Das Elend der Modernisierung findet als Modernisierung des Elends auch bei uns in den reichen Ländern tagtäglich statt.

Beispielsweise in Berlin-Zehlendorf. Faxt mir doch meine dort ansässige Lieblingskusine R. einen waidwunden Aufschrei tief aus der Seele einer unter den gnadenlosen Modernisierungzwang geratenen friedlichen Heimarbeiterin. R. ist Übersetzerin – aus dem Englischen, manchmal sogar aus dem Chinesischen. Seit Jahr und Tag hat sie ihre Arbeiten im milden Licht der Kiefernwäldchen, die zwischen U-Bahn Onkel Toms Hütte und der Krummen Lanke so anmutig für Inspiration sorgen, mit dem uralten MS-DOS auf Word 5 gefertigt. Sie kannte jeden Kurzbefehl („Shift F 6, yeah, Baby!“) und jetzt muss sie Windows 95 lernen („jenes verhasste, fensterfixierte, ikonenhaft-doofe schriftfeindliche Programm, das einen mit Menüs zukleistert“) und dazu auch noch Internet. Weil einer ihrer Auftraggeber ihr mitteilte, „dass Übersetzungsaufträge ab sofort nur noch über E-Mail erfolgten“.

„Ich will keine Maus. Welcher ernst zu nehmende Übersetzer hat auf seinem Schreibtisch Platz für eine Maus, wenn rechts und links von der Tastatur der brave Große Muret Sanders A – M bzw. N – Z zu liegen hat?“, klagt R., bekennt aber, den Arschtritt jenes Auftraggebers wohl gebraucht zu haben. Sie sei nun entschlossen, modern zu werden. (Windows 95 hat sie seit Jahren geladen, ohne es zu benutzen.) Als Internetprovider habe ihr der 17-jährige Nachbarjunge (von der „Autoexec.bat-Generation“) T-Online empfohlen: „Die haben ein Programm, das auch ältere Menschen verstehen.“

Sagt der zu meiner kleinen, süßen Kusine! Allerdings habe sie nicht mal das Gerontoprogramm von T-Online zum Laufen gebracht und den Nachbarjungen erneut bemühen müssen. Und der habe erkannt, dass ihr Modem wahrscheinlich „total veraltet“ sei. „Wie der Herr, so das G'scherr“, hat er vermutlich gedacht, will ihr aber ein neues besorgen. Bis dahin faxt R. weiter in dem elenden Bewusstsein, jener verlorenen Generation anzugehören, der jede neue Menüleiste an die Existenz geht, weil sie altes Wissen so grausam überflüssig macht. Der ein Shift F 6 lieb geworden ist wie ein chinesisches Schriftzeichen, das man mit großen Mühen einmal gelernt hat. (Nicht auszudenken für Sinologen, wenn die Chinesen auf die Idee kommen, die lateinische Schrift einzuführen.)

Doch es gibt auch Hoffnung. Als ich R. am Telefon sage, dass wir jetzt bald nette kleine E-Mails zwischen Berlin und München austauschen können, erfasst sie fröhliche Zuversicht: „In zehn Jahren beherrsche ich ja dann vielleicht auch Windows 95 und das Internet.“ „In fünf!“, mache ich ihr Mut. (Dass wir dann neue Windows und anderen Schnickschnack haben, verschweige ich natürlich.) „Du schaffst es, und ich kann dir dann per E-Mail auch mal schnell helfen. Sieh mal, wir leben im Zeitalter der Ungleichzeitigkeit, Alt und Neu existieren nebeneinander und irgendwann löst das Neue das Alte ab. Es ist wie mit den Männern ...“, aber da hat sie schon aufgelegt. Thomas Pampuch

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