Noch mehr Freud durch Celluloid

Endlich: die MTV-Rolle! „Clip cult vol. 1 – exploding cinema“ bringt avancierte Musikvideos ins Kino und rückt die Regisseure ins Rampenlicht. Aber wo sind die Stargesichter geblieben? Und sind Clips wirklich mehr als Warenwerbung?  ■ Von Olaf Karnik

Nachdem man in den späten 80ern mit Cannes- und anderen Rollen dem künstlerischen Potenzial des Werbefilms auf der Kinoleinwand gehuldigt hat, ist nun das Genre Musikvideo dran. Clips im Kino – für die Kompilatoren der Kölner Filmvertriebsfirma rapid eye movies ist dieser Medienwechsel geradezu zwingend. Zum einen tragen sie damit der Tatsache Rechnung, dass Musikvideos zu den elementaren Bestandteilen der Popkultur der 80er- und 90er-Jahre zählen; zum anderen wird mit „clip cult vol. 1“ eine bestimmte clipästhetische Entwicklung der letzten Jahre dokumentiert: weg vom Star-Abbild.

Die herausragenden Beispiele dieser Gattung sind nämlich längst keine immer gleichen lippensynchronen Popstar-Vehikel mehr, sondern filmische Ereignisse, wo von der Musiker-Darstellungsfunktion emanzipierte Bilder in alle Richtungen artistisch wuchern. Nicht umsonst gilt der Musikclip vielen Jungregisseuren – trotz seines Charakters als Auftragsarbeit für Musiker bzw. Plattenfirma – als besondere künstlerische Herausforderung. In bester Kurzfilmtradition werden da Geschichten erzählt, an Filmgenres angelehnte Szenarios durchgespielt, Special Effects auf höchstem Niveau eingesetzt, abstrakte Bildwelten generiert. Wie bei kaum einer anderen Fernsehware gehen beim „anspruchsvollen Videoclip“ Kunst und Kommerz eine massenwirksame Verbindung ein. Und in Relation zur Länge kostet kaum eine andere Fernsehware so viel wie ein aufwendiges Video: Beträge in Millionenhöhe sind da durchaus keine Ausnahme mehr. Kein Wunder, dass Clip-Produktion für viele Regisseure mittlerweile ein Sprungbrett auf dem Weg zum Filmregisseur darstellt – so wie bei Spike Jonze, der in der Clip-Szene jahrelang als Kultregisseur galt (unter anderem Daft Punk, Sean Lennon) und kürzlich mit „Being John Malkovich“ seinen ersten Aufsehen erregenden Kinofilm realisiert hat.

Gründe genug, einige der avanciertesten Produktionen des Genres aus den letzten Jahren nun im Kinosessel zu begutachten – vom Videoformat auf 35-mm-Filmmaterial gefazt und mit Dolby-SR-Sound ausgestattet. Und wie man schon von Kurzfilmfestivals weiß, macht das durchaus Sinn. Gerade den Arbeiten von Chris Cunningham – der hier gleich sechsmal mit Clips für Squarepusher, Aphex Twin, Autechre, Leftfield und Björk vertreten ist – merkt man an, dass sie Celluloid begehren und das enge Format des Bildschirms sprengen möchten. Cunninghams „Windowlicker“ ist sogar ein Kurzfilm par excellence: Aphex Twins Musik spielt hier nur eine Nebenrolle, sie setzt viel später ein als die Bilder und wird sogar mehrmals zugunsten von Dialogen ausgeblendet. Darüber hinaus dauert diese maliziöse Parodie auf einschlägige sexistische Körperinszenierung in R 'n' B-Clips fast 11 Minuten, hat sogar einen filmgerechten Abspann samt aller erdenklichen Credits. Cunninghams brutal-verstörender Clip zu Leftfields „Africa Shox“, in dem ein hungernder Schwarzer in den Straßen von New York an der Ignoranz seiner Mitmenschen im wahrsten Sinne des Wortes zerbricht, kann seine humanistische Botschaft im Rahmen des Kinos eben noch ganz anders entfalten als beim beiläufigen Konsum des Musikfernsehens.

Überhaupt: In Bezug auf Themenwahl und Bildersprache lassen sich relevante popkulturelle und latente gesellschaftliche Issues in den Clips von Cunningham am besten ablesen: Posthumanismus vs. Humanismus und die Mensch-Maschine-Relation („All Is Full Of Love“, Björk); Urbanität und der Horror des Realen in der Vorstadt ( „Come To Daddy“); Kritik an disziplinargesellschaftlichen Einschließungsmilieus („Come On My Selector“, Squarepusher) oder an Sexismus, Rassismus, Kapitalismus („Windowlicker“). Dass er dabei Aporien aufeinander knallen lässt und böse mit Rezeptionserwartungen spielt, gehört zu seiner Methode. Cunningham materialisiert Zeitzeichen im Clip – und ist dann doch immer einen Sprung weiter als die Begriffe, die einem dazu einfallen.

Aber nicht nur Cunninghams Ästhetik der Überschreitung gewinnt im Ereignismedium Kino. Auch Michel Gondry bezieht sich auf primär filmische Technologien, wenn er zu Cibo Mattos „Sugar Water“ eine dramatische Geschichte im Split-Screen-Verfahren einmal vorwärts, einmal rückwärts erzählt. Und bei Spike Jonzes gewollt schmucklos und amateurhaft wirkender „Doku“ über frenetische Laientänzer in einer Shopping-Mall lacht es sich kollektiv im Kino immer noch am besten – nicht zuletzt deshalb, weil die Protagonisten in diesem Clip potenziell dem diffusen Saalpublikum gleichen, dessen Teil man selber ist. Hieße der Interpret hier übrigens nicht Fatboy Slim, wäre ein derartig schlichter, aber effektiver Clip von den Auswahlgremien des Musikfernsehens gar nicht erst auf Rotation geschickt worden ...

Denn, wie jeder auch nur gelegentliche Beobachter des Musikfernsehens weiß, spielen solche und andere hier ausgestellte Außerordentlichkeiten bei der Programmierung keine ausschlaggebende Rolle. Musikfernsehen koordiniert nicht Clipkunst, sondern organisiert Warenwerbung. Wo der Clip als Produkt-Trailer funktionalisiert wird, versinkt Klasse in der Masse. Und die Namen der Regisseure werden dort nicht mal insertiert. Nur im Ausnahmefall kann man Cunningham oder Gondry im Musikfernsehen zu einer bestimmten Uhrzeit einschalten – dann, wenn Spezialformate am Abend die Arbeiten solcher Regisseure featuren.

Wenn sich Musikfernsehen des Bildes lediglich bedient, um die Musik absatzfördernd zu transportieren, rücken Rollen wie „clip cult vol. 1“ das Bild – und damit den Autor – ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dabei lassen sich die Kompilatoren allerdings von der falschen Vorstellung leiten, „Autor“ und „künstlerische Qualität“ nur da zu vermuten, wo Musikinterpreten ihr Gesicht nicht länger gefallsüchtig oder provozierend in die Kamera halten. Traditioneller Kunstbegriff rules. So bietet „clip cult vol. 1“, trotz größtenteils erlesener Auswahl, auch keinen repräsentativen Querschnitt internationaler Topqualität. Nicht zuletzt durch den Verzicht auf Performance- und so genannte Lip-Sync-Videos wird interessierten Zuschauern, die Musik-TV nicht regelmäßig verfolgen, einiges an ästhetischen Innovationen und popkulturellen Subjektivierungsmodellen vorenthalten – etwa die wahnwitzigen, afro-futuristischen Star-Inszenierungen eines Hype Williams für Busta Rhymes oder Missy Elliott. Da wirkt es eher bemüht originell, wenn stattdessen die Performance im Martial-Arts-Tanz (Cylobs „Rewind“, R: Mark Adcock) oder Samurai-Schwertkampf-Gewand (Photeks „Ni Ten Ichy Ryu“, R: Hiroyuki Nakano) durch die Hintertür wieder reinkommt.

Zu fragen bleibt auch, warum kein einziger Clip aus Deutschland ins Programm genommen wurde – etwa Produktionen von Klöfkorn/Husain (Sensorama) oder von Smoczek/Policzek (u. a. Goldene Zitronen). Vielleicht weil dann aufgefallen wäre, dass ambitionierte deutsche Clipkunst fast immer mit geringem Budget operieren muss (und das ist beim deutschen Film nicht anders ...), während international die Faustregel gilt: Was nix kostet, ist auch nix.

„Clip cult vol. 1“ will aber weder den Entwicklungsstand aktueller Musikvideo-Produktion in seiner ganzen Bandbreite dokumentieren, noch geht es darum, die „besten“, einflussreichsten oder irritierendsten Momente popkultureller Audiovision vorzuführen. Dieser Job, jenseits der Frage nach Performance- oder Non-Performance-Clip, bleibe dem Musikfernsehen selbst überlassen – und die Tatsache, dass es daran täglich scheitert, lässt noch zahlreiche Optionen für derartige Clip-Kompilationen im Kino offen. In ausgewählten Kinos in Berlin, Frankfurt, Köln, München, ab 3. 10. auch Bonn, ab 7. 10. Hamburg

Hinweis:Den Clips ist anzumerken, dass sie Celluloid begehren, das enge Bildschirmformat sprengen wollen