■ Fünfzig Jahre Volksrepublik China: Im Westen stellt man Mao längst in eine Reihe mit Stalin und Hitler. In China ist das anders
: Kein Mao ohne Legende

Genau fünfzig Jahre ist es her, dass er vom Tor des Himmlischen Friedens seine berühmten Worte sprach: „Das chinesische Volk ist aufgestanden.“ Und noch immer schaut er – verewigt in dem bekannten Großporträt, vor dem sich die Touristen fotografieren lassen – von jenem Tor auf den Tiananmen-Platz hinab. Dort wird heute vor seinen Augen ein gewaltiges Spektakel stattfinden. Doch nicht wenige werden sich dabei fragen, warum ausgerechnet Mao Tse-tung, dessen Regentschaft viele Dutzend Millionen Tote hinterließ, auch heute noch als Schirmherr der Volksrepublik dient.

Oft erkundigen sich fremde Besucher in China, warum nicht das Porträt des aus westlicher Sicht ungleich erfolgreicheren Mao-Nachfolgers Deng Xiaoping den symbolischen Platz am Tor des Himmlischen Friedens einnimmt. Dann bleibt der chinesische Führer, sofern er intelligent ist, eine klare Antwort schuldig. Er sei eben der Gründer der Volksrepublik, wird er grummeln. Oder das Volk liebe ihn noch immer. Insgeheim aber wird er dem Besucher Recht geben.

Denn die meisten Mao-Denkmäler im Land sind längst abgebaut, und in den reichen Südprovinzen, wo Dengs Reformpolitik am erfolgreichsten war, wird der Nachfolger längst an Maos Stelle in der Öffentlichkeit geehrt. Aber eben nicht in Peking. Und das ärgert die Hauptstadtintellektuellen inzwischen gewaltig. In Wahrheit aber variiert das Mao-Bild in China heute von einem Extrem zum anderen. Mal ist er Held, mal Verbrecher, aber für erstaunlich viele immer noch eine annehmbare Führerfigur.

Vieles ist im Westen darüber geschrieben worden, dass Mao den Bauernmassen falsche Versprechungen machte, nur um nach seiner Machtübernahme die gleichen Herrschaftsmethoden wie Stalin anzuwenden. „Ein Mao Tse-tung, der die Verankerung auf dem Land als permanentes Prinzip und nicht als vorübergehende Taktik verfolgt hätte, wäre kein scharfsinniger Kommunist, sondern ein Dummkopf gewesen. Und Mao war kein Dummkopf“, urteilte Karl August Wittvogel, ein Freund Bertolt Brechts, der sich als erster westlicher Linksintellektueller nach dem Krieg vom Maoismus abgrenzte. Doch das Urteil der chinesischen Landbewohner über ihren selbst ernannten Befreier bleibt bis heute gespalten. Mao geriet in Widerspruch zu den Bauern, als er nach 1957 erst die Kollektivierung der Höfe anordnete und dann mit der Politik des „Großen Sprungs nach vorn“ die Bauern zwang, ihr Feld zu verlassen und für die Stahlproduktion zu arbeiten. Das führte nach westlichen Berechnungen zur „größten Hungersnot aller Zeiten“, die 30 Millionen Menschen das Leben kostete.

Spricht man heute mit Bauern in der Provinz Sichuan, die damals sehr stark von der Katastrophe betroffen war, so wird das Elend dieser Zeit und die Kritik an Mao schnell deutlich. Doch in anderen Provinzen, die der größten Not entgingen, wird von den Bauern nach wie vor die Propagandalüge von den Naturkatastrophen zitiert, welche die Partei während der Hungersnot zu Maos Schutz erfand. Ungetrübt bleibt Maos Bild indessen bei der Bevölkerung längs der großen Flüsse, denn er war ein großer Befürworter des Dammbaus. Auf die Überschwemmungskatastophen Anfang der Fünfziger antwortete Mao mit der Aufforderung zum kollektiven Dammbau. Hier lohnte sich der Aufwand. Mehrere hundert Millionen Flussanrainer fühlten sich in Sicherheit gebracht. Die Dämme halten größtenteils bis heute.

Ebenso geteilt ist das Urteil der Arbeiter über Mao. Seine treuesten Anhänger besitzt der Große Vorsitzende seit jeher im Nordosten. Hier führte er nicht nur den erfolgreichen Guerillakrieg gegen die japanischen Besatzer, sondern siedelte nach dem Krieg auch die Schwerindustrie an. Noch heute bieten die damals errichteten Arbeitersiedlungen in den Großstädten einen für chinesische Verhältnisse überdurchschnittlichen Lebensstandard. Es gibt dort seit den Fünfzigern heißes Wasser und Zentralheizung – ein Reichtum, der langsam verblasst. Nun klagen die Arbeiter über die neuen Unterschiede zwischen Arm und Reich. Und sie haben Angst vor Entlassungen, die unter Mao undenkbar waren. Nicht ohne Grund überleben in den Metropolen der Region die alten Mao-Großdenkmäler.

Nur die gebildeten Schichten urteilen über Mao einhellig negativ. Lehrer, Professoren, Schriftsteller und Parteikader waren die Hauptopfer der Kulturrevolution von 1966 bis 1976, dem zweiten historischen Großverbrechen, das Mao zur Last gelegt wird. Mit dem Aufruf zum „Sturm der Hauptquartiere“ löste sich Mao 1966 aus der parteiinternen Machtlosigkeit und stellte sich auf die Seite einer militanten Jugend, die ihn als „Rettungsstern“ verherrlichte. Das führte zu einer Lynchkampagne gegen Andersdenkende, die Millionen Opfer forderte.

Als Deng schließlich 1978 die Mao-Nachfolge antrat und die Opfer der Kulturrevolution rehabilitierte, entschloss er sich zu einer revidierten Mao-Rezeption: „An seinem Lebensabend, vor allem in der Kulturrevolution, hat Mao Fehler begangen, die viel Unglück über unsere Partei, unseren Staat und unser Volk brachten“, sagte Deng 1980. Damit beruhigte er die meisten Opfer ausreichend, um sie auf seine Seite zu bringen. Gleichzeitig aber forderte Deng, „nicht alle Fehler der Vergangenheit dem Vorsitzenden Mao allein anzulasten“. Wie immer hatte Deng die Stimmung der Bevölkerung genau gelesen. Denn er sprach Mao schuldig, ohne ihn vor Gericht zu stellen. Maos genaue Befehle sind bis heute unbekannt. Keiner weiß, ob er je jemanden absichtlich töten ließ.

„Wir haben bislang keine Vorstellung vom Horror, den Mao verbreitete“, befand der Harvard-Historiker Roderick MacFarquhar vor ein paar Jahren. Tatsächlich überbietet sich die westliche Chinaforschung darin, Mao immer schrecklichere Verbrechen nachzuweisen. Im „Schwarzbuch des Kommunismus“ setzten die Autoren ohne weitere Nachweise 65 Millionen Tote auf sein Konto. Aber selbst wenn man dem nicht folgt, ist die Zahl unglaublich hoch und in China nicht bekannt. Wird Mao also eines Tages, wenn die Öffentlichkeit besser aufgeklärt ist, doch noch vom Tor des Himmlischen Friedens entfernt? Man kann hier Hannah Arendt zitieren: „Es war ganz offensichtlich, dass Maos Denken nicht in den Bahnen verlief, die von Stalin (oder dann auch von Hitler) vorgezeichnet waren, dass er nicht von Mordinstinkten gelenkt wurde.“ Oder man kann einen berühmten Satz Heinrich Heines über das Verhältnis der Franzosen zu Napoleon so abändern: „Man hat außerhalb Chinas keinen Begriff davon, wie sehr noch das chinesische Volk an Mao hängt.“ China ist noch nicht reif für ein Mao-Bild ohne Legende. Georg Blume

Hinweise:Deng verurteilte Mao ohne Gerichtsverfahren, das prägt das Land bis heuteFür erstaunlich viele Chinesen ist Mao noch immer eine annehmbare Führerfigur