Neuauflage des Kaukasus-Krieges

Während die russische Luftwaffe täglich Ziele in Tschetschenien bombardiert, operieren dort bereits Bodentruppen. Unter den Flüchtlingen bricht Panik aus  ■    Von Barbara Kerneck

Moskau (taz) – Gestern erhielten Befürchtungen neue Nahrung, dass es zu einer Neuauflage des Krieges zwischen Russland und Tschetschenien gekommen ist, der in den Jahren 1994 – 96 etwa 130.000 Menschenleben forderte. Noch vor wenigen Tagen hatte die russische Regierung versichert, dass sie nur Luftangriffe auf Tschetschenien plane, nicht aber den Einsatz von Bodentruppen – mit Ausnahme weniger, hochtrainierter Einsatztruppen in einem späteren Stadium. Gestern jedoch überschritten einzelne Einheiten der Streitkräfte der Russischen Föderation die Grenzen zur Republik Tschetschenien und besetzten dort diverse Kommandohöhen. Über die Art dieser Truppen war bis Redaktionsschluss nichts bekannt.

Ministerpräsident Putin sagte während eines Aufenthaltes in Sankt Petersburg, er wisse davon, sei aber nicht bereit, diese Operation näher zu kommentieren. „Ich versichere, dass mir alles bekannt ist“, sagte Putin, „ohne Beteiligung der Regierung passiert hier nichts.“ In aggressivem Ton fuhr er fort: „Wir haben keine Grenze mit Tschetschenien. Das ist alles die Russische Föderation.“ Dann zischte er: „Genug Fragen!“

Den gestrigen Vormittag hatte Putin in Sankt Petersburg auf einer Konferenz der Leiter der Sicherheitsdienste der GUS-Länder verbracht. Dort machte er eine noch überraschendere Enthüllung: dass föderale Militäreinheiten schon seit etwa zwei Wochen auf tschetschenischem Territorium operierten. Putin reagierte dabei in einer Weise, wie sie für Paranoiker typisch ist. Er sagte: „Die Presse hat sich dafür sehr aktiv interessiert – offenbar weil sie die ,Aufträge ihrer Redaktionen‘ ausführt.“ Das Wort „Redaktionen“ spuckte er dabei aus, als ob es sich um kriminelle Vereinigungen oder Spionagezentren handele.

Der Premier betonte, für den Einmarsch in Tschetschenien habe es keiner parlamentarischen Erlaubnis bedurft. Etwas anders sei dies bei Peacekeeping-Einsätzen, die von der UNO gebilligt werden müssten: „Aber dies ist Teil der Russischen Föderation, und unsere Soldaten können sich in ihr aufhalten, wo sie wollen.“

In den letzten beiden Wochen hatten die russischen Grenzdienste unter hohem Aufwand begonnen, Russland durch einen Sicherheitskordon gegenüber Tschetschenien abzusichern. Die gestrige Invasion rechtfertigte Putin mit dem Argument, dass es zweckmäßiger sei, den Kordon auf tschetschenisches Gebiet zu verlagern. So müsste bei Schießereien um die Grenzbefestigungen wenigstens nicht die russische Bevölkerung leiden.

Korrespondenten bestätigten, dass die russische Armee auf Höhe der dagestanischen Bezirke Nowolaksk und Kasbeksk die Grenze zu Tschetschenien überschritten habe und dort neue „Sicherheitszonen“ errichte. Nachdem Russland seine Bombardierungen Tschetscheniens fortsetzt, haben sich an derselben Grenze zweieinhalbtausend Flüchtlinge angesammelt. Die Dagestanis lassen sie nicht herein, weil sie befürchten, dass sich unter ihnen Diversanten befinden könnten, die in Dagestan Terrorakte planen.

Weitere siebzigtausend Menschen flüchteten bereits in das benachbarte Inguschetien oder befinden sich an dessen Grenze, wo es zur Panik kam. Am Mittwoch hatte eine wütende Menge dem tschetschenischen Präsidenten Aslan Maschadow die Einreise verwehrt. Maschadow wollte mit den Machthabern Dagestans verhandeln. Die Dagestanis machten ihn für den Überfall verantwortlich, den Banden tschetschenischer Terroristen in diesem Herbst auf ihr Land verübten.

Unterdessen setzte die russische Luftwaffe ihre Flächenbombardements in Tschetschenien fort. Gestern wurden wieder mehrere Unternehmen der erdölverarbeitenden Industrie getroffen. Dazu kamen zwei Dörfer, wo Stützpunkte der islamistischen Rebellen vermutet werden, sowie der größte Staudamm der Republik am Fluss Argun, nahe des Dorfes Staryje Atagi.