Die Anlage und der Blitz

■ Vermutungen über die Kettenreaktion in Tokaimura. Ähnliche Unfälle sind in Uranfabriken schon öfter aufgetreten

Hamburg/Paris (AFP/dpa) – Die Arbeiter in Tokaimura bericheten gestern von einem blauen Blitz, den sie bei dem Unfall gesehen haben. Deshalb handelt es sich nach Einschätzung japanischer und französischer Experten vermutlich um einen so genannten atomaren „Blitz“, bei dem extrem hohe Strahlendosen auftreten können. Dazu kann es kommen, wenn eine kritische Masse von spaltbarem Material wie Uran oder Plutonium an einem Ort zusammenkommt. Diese kritische Masse liege im Falle des in Tokaimura verwendeten Uran 235 mit 20-prozentiger Anreicherung bei etwa 1,5 Kilogramm, sagte am Donnerstag Patrick Cousinou vom Institut für nukleare Sicherheit (IPSN) in Paris.

Laut einem Arnbeiter der Anlage wurde gestern am Unglücksort mit 16 Kilogramm Uran gearbeitet.

Bei dem gefürchteten atomaren „Blitz“ kommt es nicht zu einer nuklearen Explosion, sondern zu einer intensiven Gamma- und Neutronenstrahlung. Die Höhe der Radioaktivität sei in diesen Fällen „sehr hoch“ und zumeist tödlich für diejenigen Menschen, die sich in der Nähe aufhielten, sagte Cousinou. Gefahr für die weitere Umgebung bestehe aber nicht, da die extrem hohe Strahlung auf den Raum beschränkt bleibe, in dem die kritische Masse zusammengekommen sei. Allerdings sei es möglich, dass eine gewisse Menge radioaktiven Gases über diesen engen Umkreis hinaus ins Freie gelange.

Seit 1945, dem Jahr der Zündung der ersten Atombomben, wurden nach Angaben des französischen Instituts weltweit 59 Vorfälle durch einen solchen atomaren Blitz gezählt. Der Unfall in Japan wäre dann der 60. Fall. Seit 1978 habe es aber auf Grund verbesserter Sicherheitsmaßnahmen nur noch 5 dieser Unfälle gegeben – kein einziger bislang in Japan. Insgesamt kamen den Angaben zufolge 17 Menschen bei diesen Zwischenfällen ums Leben.

In einer Aufbereitungsanlage wie der im japanischen Ort Tokaimura wird das in der Natur vorkommende Uranerz angereichert. Das ist erforderlich, weil das reaktorfähige Isotop Uran-235 im Ursprungsstoff nur zu 0,7 Prozent vorkommt.

Mit verschiedenen chemischen Prozessen wird aus dem Erz zunächst ein gelbes Uranpulver („Yellow Cake“) gewonnen, das zwar schon relativ rein, aber noch nicht spaltbar ist. Um dies zu erreichen, wird das Pulver erhitzt und bei etwa 60 Grad Celsius gasförmig; es entsteht Uranhexafluorid (UF 6). Mittels einer Zentrifuge oder auch eines Diffusionsverfahrens können anschließend die schwereren von den leichteren Uran-Isotopen getrennt und das erwünschte Uran-235 isoliert und durch Wiederholen der Prozedur angereichert werden. Hat Uran-235 den Anteil von 3 Prozent erreicht, ist es reaktorfähig.

Bei unvorsichtiger Handhabung des UF 6, etwa wenn es mit Wasser vermengt wird, kann eine kritische Masse entstehen, wie sie normalerweise in Reaktoren vorkommt.