„Man muss sich fürs ganze Land freuen“

■ SPD-Veteran Egon Bahr wünscht sich fürs nächste Mal einen Preisträger aus dem Osten

taz: Herr Bahr, was empfindet ein alter politischer Weggefährte am großen Jubeltag des Günter Grass?

Egon Bahr: Der empfindet herzliche, uneingeschränkte Freude.

Für wen freuen Sie sich am meisten? Für den Schriftsteller, den Politiker, den Menschen Günter Grass?

Das schwedische Nobel-Komitee vergibt den Preis ausschließlich für literarische Leistungen, und genau darüber freue ich mich auch.

Das Nobelpreis-Komitee hat den Preis ausdrücklich für die in den fünfziger Jahren geschriebene „Blechtrommel“ verliehen und nicht für seine heftig umstrittenen späteren Werke. Finden Sie auch, dass der späte Günter Grass gegenüber seinen frühen literarischen Leistungen stark abfällt?

Nein, gar nicht. Eher ist noch das Gegenteil der Fall. Es liegt einfach in der Tradition des Nobelpreiskomitees, ein frühes Werk zu loben und die späteren Leistungen des reiferen Mannes eher unter den Tisch fallen zu lassen. Ich denke, die Bedeutung von „Ein weites Feld“ ist in seiner ganzen Tragweite noch gar nicht verstanden worden. Da steht doch alles schon drin, was wir heute an Problemen mit der deutschen Einheit täglich vor Augen haben. Ein visionäres Buch.

Man sieht, Sie sind mit der Entscheidung des Nobelpreiskomitees vollkommen einverstanden.

Das Ganze ist eine ungeheure Freude für mich, weil es auch ein Stück Anerkennung ist für das ganze Land, und ich glaube, es wird auch eine ungeheure Aufmerksamkeit auf die anderen Schriftsteller des vereinigten Deutschland richten. Man muss sich unbedingt fürs ganze Land freuen. Ja, ich finde, es ist eine Anerkennung für uns alle, denn die Literatur unseres Landes ist nicht, wie so oft von ihren Gegnern behauptet wird, langweilig, verächtlich und blutleer. Wir haben jede Menge junge, starke Talente in unserer Literatur. Und der nächste deutsche Nobelpreisträger, da bin ich sicher, wird aus dem Osten dieses Landes kommen. Ja, er muss geradezu aus dem Osten kommen. Ich wünsche mir das. Doch die Zeitspanne, die die Literatur braucht, um ein Ereignis wie die deutsche Einheit zu verarbeiten, braucht leider länger, als man es sich wünscht.

Interview:
Volker Weidermann