Japanische Uranfabrik außer Kontrolle

■  Kettenreaktion in einer Atomanlage in der Nähe von Tokio. Uranarbeiter und Anwohner werden verstrahlt. Die japanische Regierung veröffentlicht immer dramatischere Angaben und bittet die US-Armee um Hilfe

Berlin/Tokio (taz/AFP) – In einer Atomanlage in Japan hat sich gestern der schlimmste Nuklearunfall in der Geschichte des Landes ereignet. Die Regierung verschärfte im Laufe des Tages und der Nacht ständig ihre Einschätzung zur Schwere des Unfalls.

Die Betreiber der Anlage vermuteten gestern, dass beim Umgang mit 16 Kilogramm hochangereichertem Uran der Kernbrennstoff eine kritische Masse erreichte, eine atomare Kettenreaktion auslöste und dabei massiv Strahlung freisetzte. Von diesem Szenario gingen auch französische Atomexperten aus. Es wird von einem nuklearen „Blitz“ ausgegangen, bei dem kurzzeitig extrem hohe Stahlendosen auftreten können. Die Frage ist nun, inwieweit radioaktives Gas aus dem Raum mit der Kettenraktion ins Freie gelangen konnte. Nach Angaben der Regierung in Tokio trat durch ein Leck eine Strahlung aus, die in der Atomanlage 4.000-mal höher lag als die Norm. In der Fabrik in Tokaimura, 120 Kilometer nordöstlich von Tokio, wird der Brennstoff für Atomkraftwerke hergestellt .

Die Bevölkerung in der 20.000-Einwohner-Stadt Tokai wurde aufgefordert, in den Häusern zu bleiben und Türen und Fenster zu schließen. Insbesondere sollten sie den niederfallenden Regen meiden. Die Polizei sperrte das Werk zunächst im Umkreis von 200 Metern ab und ordnete die Evakuierung von 150 Menschen an. Außerdem wurden sechs Kindergärten und acht Schulen geschlossen. Am Nachmittag wurde die Warnung auch auf Teile der nahe gelegenen Stadt Nakamachi ausgedehnt. In einem Radius von drei Kilometern um den Unglücksort wurde der Verkehr verboten. Japanischen Medien zufolge wurde eine Evakuierung in einem Zehn-Kilometer-Radius erwogen.

Zuerst hieß es, drei Arbeiter seien um 10.35 Uhr Ortszeit verstrahlt und mit lebensgefährlichen radioaktiven Dosen in die Klinik geflogen worden. Nach letzten Angaben der Betreibergesellschaft JCO waren es dann insgesamt 14 Arbeiter, die verstrahlt wurden. Zwei davon liegen in einer Strahlenklinik und sind kaum bei Bewusstsein. Laut regierungsunabhängigen Organisationen waren auch Anwohner erhöhten Strahlendosen ausgesetzt.

Die Regierung trat auf Anordnung von Ministerpräsident Keizo Obuchi zu einer Krisensitzung zusammen und bildete einen Krisenstab. Regierungssprecher Hiromu Nonaka sagte, es müsse mit „schwerwiegenden Auswirkungen auf die Umwelt“ gerechnet werden. „Das Land hat eine solche Erfahrung noch nie gemacht.“ Die Regierung habe alle öffentlichen Kräfte mobilisiert, um die „Notfallsituation“ zu meistern. Laut einem Sprecher gebe es die „starke Möglichkeit, dass die unnormalen Reaktionen in Tokaimura sich zurzeit fortsetzen und sich die Radioaktivität in der Umgebung ausbreitet“. Die Regierung bat auch die im Lande stationierten US-Streitkräfte um Hilfe. Diese meinten jedoch, sie wären für eine solche Notfallsituation nicht ausgerüstet. Der Regierungschef verschob eine für heute geplante Kabinettsumbildung wegen des Unfalls. rem

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