Brauner Bär und Leninschweiß

Kindheitserinnerungen sind nur selten kompatibel, am wenigsten die von Menschen, die in der DDR oder der BRD aufgewachsen sind. Gewiss ist wohl, dass der Westen den Osten nicht wahrnahm, der Osten den Westen hingegen mit echtem Erstaunen anguckte, vor allem mit Hilfe des Fernsehens. Eine fast ethnologisch inspirierte Annäherung zweier Männer, die zur Wendezeit ins Berufsleben starteten. Ein sensibles Gespräch über die Siebziger- und Achtzigerjahre von Phillip Schwenner und Oliver Pries

Phillip: Schade, dass es kein Brauner Bär mehr gibt. Das war einfach das beste Eis. Schmeckte ungefähr wie Amaretto.

Oliver: Bah, so'n eklig, klebriges Zeug. Da war unser Stieleis echt besser.

Phillip: Das hieß bei euch bestimmt gefrorene Süßspeise am Stiel.

Oliver: Nee, nee. Jahresendflügelfigur gibt's ja auch nur in euren Köpfen. Der hieß schon wie überall Weihnachtsengel, wenn es ihn zu kaufen gab. Stieleis kostete 45 Pfennig. Wenn es in der Kaufhalle lag, ranntest du hin, kauftest zehn Stück, hast drei gegessen und den Rest ins Kühlfach zu Hause gelegt.

Phillip: Typischer Fall von Mangelwirtschaft. Bei uns war's eher umgekehrt. Es gab alles, wir brauchten nur Geld. Deshalb konnten wir auch viel zu selten Brauner Bär kaufen. Meistens gab's stattdessen das Wassereis für zwanzig Pfennig.

Oliver: Das gibt's doch jetzt noch, hab ich letztens erst probiert – eklig.

Phillip: Dann hast du Kirsche erwischt. Cola war gut, da konntest du aber nur den Geschmack raussaugen und dann das rohe Eis wegschmeißen. Wofür habt ihr denn euer Geld ausgegeben außer für Eis? Gab doch sonst nichts.

Oliver: Blödes Vorurteil. Ich glaube, wir haben Geld ausgegeben wie ihr auch. Für Brausepulver, Poster.

Phillip: Nachmittags haben wir überlegt, wie können wir ganz schnell ohne viel Aufwand ganz viel Geld verdienen. Und da sind wir immer nur dabei gelandet, Flaschen und Müll runterzubringen.

Oliver: Da gab's doch kein Geld für.

Phillip: Doch, dreißig Pfennig pro Pfandflasche.Von wegen, wir wären ne Wegwerfgesellschaft gewesen.

Oliver: Wir sind richtig losgezogen, Altstoffe sammeln. „Altstoffe sind Rohstoffe“ war die offizielle Parole. Wenn du da gut warst, hast du schon zehn Mark am Nachmittag gemacht – oder mehr.

Phillip: Da hätten wir uns ja sechzig Tütchen Fußballbilder holen können. Wir haben unser Geld nämlich eh für Fußballeinklebealben gebraucht. Da wurde man regelrecht angefixt: Die standen vor der Schule und haben die leeren Alben und das erste Tütchen Klebebilder verschenkt. Da hast du aus Langeweile angefangen, die ersten Bilder einzukleben, aber was willst du mit einem Album, wo nur vier Bilder drin sind?

Oliver: In welcher Schokolade waren die Bilder denn drin?

Phillip: Keine Schoko. Die waren halt in den Tütchen.Und nachdem du angefixt warst, musste man ein Höllengeld investieren. Oder man tauschte – das war Kapitalismus pur. Gibst du mir einen Rummenigge und du kriegst Magath, Dietz und fünf Förster zum Weitertauschen.

Oliver: Fussball-WM-Bilder aus der Sprengelschokolade wurden bei uns auch getauscht und, wer das Album hatte, auch eingeklebt. Auch bei uns gab's in Schokolade Sammelbilder. In Creck-Tafeln, die kosteten eine Mark und schmeckten fürchterlich. Und da waren Tiere drin, aber von einer solchen Bildqualität, als wenn du mit ner Zimmerantenne Westfernsehen sehen wolltest.

Phillip: Eigentlich egal, was es zu kaufen gab, immer gab's was zum Sammeln, und schon haste in der Scheiße dringehangen, wenn du damit angefangen hast, ob in Kaugummitüten oder in Colaflaschen Knibbelbilder in den Deckeln.

Oliver: Da waren wir schon neidisch drauf. Vielleicht hätten die damit unsere süßen Limonaden besser verkauft, gelbe und rote Fruchtbrause, wir nannten die Leninschweiß. Irgendwie hätten wir schon gerne bisschen mehr bunt drumrum gehabt, ob eure Sachen dann immer besser geschmeckt haben, will ich mal gar nicht behaupten. Im Exquisit und Delikat gab es immerhin Waren, so aus der zweiten Westreihe, Van-Houten-Trinkfix. Gab's das bei euch auch?

Phillip: Nee.

Oliver: Das wurde wahrscheinlich nur für die Zone gemacht, kostete zwölf Mark und war fürchterlich süß, aber wenn ein Kind gerne Schokomilch getrunken hat, dann hielt das Ding zwei Wochen – unglaublich viel Geld für die Eltern.

Phillip: Habt ihr denn Westsachen richtig hinterhergejagt?

Oliver: Kann man so sagen. Bravo-Poster zum Beispiel wurden bei uns gehandelt. So zwischen zwanzig und dreißig Mark, was ziemlich pervers war. Was hat die Bravo gekostet?

Phillip: Zwei Mark oder so.

Oliver: Fünf Poster – viel Knete.

Phillip: Wir wussten ja gar nicht, wohin mit den ganzen Postern. Bei mir waren die Wände schon gar nicht zu sehen: eine Wand mit Shakin-Stevens-Poster und die andere Wand komplett mit Fussballpostern aus dem Kicker.

Oliver: Fussballposter waren bei uns weniger angesagt, ich kannte keinen, der ein Bayern-Poster hatte.

Phillip: Auch nicht Sparwasser?

Oliver: Nee, wir haben zwar Oberliga geguckt, auch Bundesliga.

Phillip: Hattet ihr da keine Idole? Wenn wir selbst gespielt haben, haben wir uns immer Namen gegeben.

Oliver: Klar waren wir wer, aber lieber Jürgen Sparwasser und Dörner oder Rivelino, der Brasilianer, aber nicht Müller oder Breitner.

Phillip: Also, die Oberligamannschaften kannten wir gar nicht.

Oliver: Hast du gar kein Ostfernsehen gesehen?

Phillip: Doch, Sandmännchen, das war besser als bei uns. Pittiplatsch und Schnatterinchen, solche Figuren gab's bei uns gar nicht. War da nicht das Lied „Sandmann, lieber Sandmann“... (singt)

Oliver: Ja, genau. Bei euch kam doch dieser Typ, stellte seinen Fernseher hin,und es ging los. Ich fand das grottenlangweilig. Gut war „Aktenzeichen XY – ungelöst“; wurde bei uns gesehen ohne Angst, das war ja drüben.

Phillip: Für uns war das der pure Horror. Wenn die Alten weg waren, konnte man das gar nicht sehen. Bei Fernsehen fällt mir ein: Früher haben wir uns in der Schule immer gegenseitig gefragt: Habt ihr Ostfarbe?

Oliver: Ja, Pal oder Secam. Einmal Ost- und einmal Westfarbsystem.

Phillip: Bei uns war ARD, das Erste, klar, ZDF das Zweite; die beiden Ostprogramme waren Viertes und Fünftes, und da hat man eben gefragt: Habt ihr gestern im Vierten gesehen?

Oliver: Ich glaube, wir haben einfach immer über die Filme geredet, ohne das Programm zu nennen. ARD war auf keinen Fall Programm vier. Hat euch eigentlich eure Werbung auch interessiert?

Phillip: Ich erinner mich nicht, dass wir gezielt Werbung gesehen haben. Doch wir haben manche Sachen aus der Werbung gesungen: „Schuhglanz von Erdal ist ne glänzende Sache“... (singt)

Oliver: Und Mainzelmännchen?

Phillip: Nee, nicht mit Bewusstsein. Aber die Dusch-das-Werbung mit der Frau mit dem nassen T-Shirt war wirklich toll.

Oliver: Und da hast du am nächsten Tag Dusch-das gekauft?

Phillip: Nee.

Oliver: Werbung gab's bei uns im Fernsehen ja auch, „Tausend Teletips“ mit „Mini-Kino“, wo Arthur der Engel lief, für den Glasreiniger Klarofix 72. Das war schon damals urkomisch.

Phillip: So was hab ich nie gesehen.

Oliver: Da haben wir's, ihr wusstet über uns wenig, und es hat euch auch nicht interessiert. Da haben wir wahrscheinlich mehr an eurem Leben teilgehabt, als ihr geglaubt habt. Also, wir haben ja die Reklame immer im Fernsehen gesehen. Und wenn wir dann mal im Intershop was gekauft haben, ehrlich, die Fa-Seife roch besser, aber sauber gemacht hat unsere Kernseife auch.

Phillip: So ging es uns täglich. Gab's irgendwas, wo du im Nachhinein neidisch drauf bist?

Oliver: Klar hätte ich ganz gerne 'n schönes Motorrad gehabt, nicht so 'n langsames Ding wie bei uns, oder andere Schokolade, und ich wäre ganz gerne mal statt an die Ostsee ans Mittelmeer gefahren. Aber kaputt gemacht hat's mich nicht. Wäre blöd, wenn ich nicht neidisch gewesen wäre, dass ihr euch Platten kaufen konntet, von Sweet oder T-Rex, und ich nicht. Auf Orangen war ich nicht neidisch, da hatten wir Kubaorangen, die manchmal mehr Saft gaben als die, die ich jetzt kaufen kann. Ich will also nicht sagen, dass ich neidisch auf eure Jugend war. Und du?

Phillip: Damals bestimmt nicht, ich hätte gar nicht gewusst, warum. Heute würde ich sagen, vielleicht auf irgendwelche Gruppenerlebnisse, vielleicht auch auf die FDJ, wo man lustige Fahrten hätte machen können, wo andere Mädels dabei sind als in der Klasse. Vielleicht insgesamt, weil ihr die schöneren Erinnerungen habt. Das was es gab, gibt's nicht mehr, das ist auf 'ne Art kultig.

Phillip Schwenner, 27, wurde in Berlin (BRD) geboren, Oliver Pries, 33, in Schwerin (DDR). Beide studieren Psychologie und Ethnologie in Leipzig