Wie eine Nordkoreanerin einen schönen Opernabend verbringt

Der Wecker klingelt wie immer viel zu früh, am 9. November 1989. In Pjöngjang, Nordkorea, ist es sieben Uhr früh. Das Wetter ist diesig, es sieht nach Regen aus. Aber es wird auch so ein schöner Tag werden, denkt sich Kwak Yong-Sook. Am Abend wird sie mit ihrem Mann endlich mal wieder dem Trott von Arbeit-Schlafen-Arbeit-Schlafen ein wenig entfliehen. In die Oper „Das Blumenmädchen“ gehen sie nach der Fabrik. Kein ganz neues Stück. Aber ein großer Erfolg, so steht es in der Zeitung. Fast alle ihre Freunde haben es bereits gesehen. Auch den Text kennt sie schon. Denn ihre Tochter Jaisin lernte die ersten Strophen in der Schule und summt sie ihr schon beim Frühstück vor: „Ggot sa si o ggot sa si o o yo bbum...“

Nachmittags um drei ist Jaisin mit der Klasse auf den Jugendfestspielen, die an allen Ecken der Hauptstadt noch bis in den April hinein stattfinden. „Politische Kunst, Sport und ökonomische Festivals“ stehen auf dem Programm. Mit ihren Freundinnen bereitet sich die Zwölfjährige auf den Höhepunkt des Festivals vor: die Simulation eines Antiimperialistentribunals. Jaisin wäre so gerne eine der Richterinnen. Oft stellt sie sich vor, wie ihre zwei Zöpfe rechts und links unter dem Richterhut hervorragen würden, während sie das Urteil verliest. „Hoffentlich gibt es auch Hüte für die Richter“, sagt Jaisin zu ihrer Freundin. Sollte es mit dem Richteramt nicht klappen, nimmt sie vorsichtshalber noch am Wettberwerb „Der große Preis des Antiimperialismus, der Solidarität und des Friedens“ teil. Der Sieger wird in den Disziplinen Sport und Geschichte ermittelt. Dafür paukt Jaisin die Biografie des großen Führers Kim Il Sung.

Die Zeit bem Arbeiten verfliegt heute förmlich, denkt Yong-Sook um acht Uhr abends kurz, als sie an ihrer großen Maschine in der noch größeren Fabrik in den Außenbezirken der Hauptstadt steht. Wenig später trifft sie ihren Mann vor der Oper des Volkes. Die ersten Besucher strömen an ihr vorbei, die meisten noch in Arbeitskleidung wie sie selbst.

Sie und ihr Mann haben einen guten Platz. Da ist auch schon das kleine Mädchen, die Hauptperson der Oper, und beginnt: „Kauf Blumen, meine Blumen, diese schönen roten Blumen, duftende und schöne Blumen, rote Blumen, die ich verkaufe, um Medizin für meine Mutter zu bekommen.“ Das geht Yong-Sook unter die Haut. Das kleine Blumenmädchen tut alles für seine Mutter, doch nur wenige wollen ihr helfen.

Zu Hause liest ihr Mann ihr dann noch kurz vor dem Schlafengehen einen Artikel über die Oper vor, der in der Zeitung gestanden hatte. „Die Oper greift die fundamentale Frage der Freiheit des Individuums auf. Das Blumenmädchen gelangt zu der Einsicht, dass ihre Wünsche nur durch eine Revolution in Erfüllung gehen.“ Ihr Mann nickt. Von Politik versteht Yong-Sook nichts und macht sich auf den Weg in ihr kleines Schlafzimmer. Aber die Partei hat Recht, wusste schon ihre Mutter. Bernd Dörries