Wie der Kanzler es doch in den Mittelpunkt der Geschichte schaffte

Es ist Abend in Warschau, Helmut Kohl ist noch Helmut Kohl. Noch nicht der Kanzler der Einheit, der Kanzler aller Deutschen, der Rekordkanzler, der Kanzler, der Landschaften zum Blühen bringen kann. Der Bundeskanzler ist auf Staatsbesuch in Polen. Der Tag war lang, der Oggersheimer und sein Magen sehnen sich nach dem Dinner im Palais des Ministerrats. Polnische Küche, mal was Neues, und die Portionen sollen ja auch nicht allzu übersichtlich sein.

Ausgerechnet beim Essen erreicht Kohl der Anruf seines Staatssekretärs Eduard Ackermann. „Herr Doktor Kohl, halten Sie sich fest, die DDR-Leute machen die Mauer, auf.“ Verflixt! Sie fingen also ohne den Historiker an, Geschichte zu schreiben. Und das, während er beim Essen sitzt. Unverschämt. Sollte er etwa nicht als Kanzler der Einheit, sondern als „Kanzler, der beim Mauerfall woanders war“ in die Geschichtsbücher eingehen? Kohl will sicher gehen und nicht nur schlecht träumen. „Das gibt's doch nicht“, sagt er konsterniert. „Doch“, erwidert sein Ackermann, „das Fernsehen überträgt live, ich kann es mit eigenen Augen sehen.“

Kohl überlegt. Nun, aufhalten kann er diese Ungestümen nicht mehr, die sich da in Berlin und anderswo in den Mittelpunkt der Geschichte drängen. Der Verlauf der Geschichte ließ sich nicht aufhalten. Da sich Geschichte aber auch nicht wiederholt, muss Kohl schnell handeln, will er nicht zur Fußnote der Geschichte degradiert werden.

Um die Gastgeber nicht zu verärgern, nimmt er seinen Tischnachbarn, den polnischen Regierungschef Tadeusz Mazowiecki, zur Seite und bereitet ihn schonend auf seine Abreise am nächsten Tag vor. Der zeigt „volles Verständnis“, und Kohl, begeistert von so viel Einsicht, avisiert für die nächsten Tage seine Rückkehr. Schließlich muss ein Essen mit dem Staatschef nachgeholt werden.

Kurz vor Mitternacht wird eine Pressekonferenz einberufen, Kohl darf wieder am Rad der Geschichte mitdrehen. Zur neuen innerdeutschen Situation sagt er, „die Lage ist dramatisch“. Das klingt gut und ist eine Steilvorlage für jeden Zeitungsredakteur. Prima, nun ist er schon mindestens eine lange Anmerkung in den Geschichtsbüchern. Aber Kohl will mehr und dreht den Spieß um. Der Kanzler sieht sich in diesem „historischen Zeitabschnitt“ im Blickpunkt der Welt. Alle Welt schaue auf Deutschland, sagt er und drückt sein Anliegen aus: „Von deutschem Boden soll auch in dieser Situation eine friedliche Gesinnung ausgehen.“

Am nächsten Morgen geht es nach Berlin, um eine Rede „an die Nation“ zu halten. Auch viele neue Brüder und Schwestern werden da sein, ihm applaudieren und „Helmut! Helmut!“ rufen. Noch mal gut gegangen. Bernd Dörries