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In der fernen Karibik herrsche ein anderes, ein wärmeres und sympathischeres Klima, wollte man lange Zeit gern glauben. Aber Kuba hat mit der einstigen DDR viel mehr gemeinsam, als es vordergründig scheint. Ein Unterschied bleibt dennoch bestehen: Kuba braucht keine Mauer, es hat das Meer Von Thomas Schmid
Es war 1986. Das Hotel Sevilla in der Altstadt, heute eine der feineren Adressen für Touristen, war noch nicht restauriert. Trotz seines maroden Zustands ließ der Palast den anrüchigen Luxus jener Zeiten erahnen, die Graham Greene in seinem Roman „Unser Mann in Havanna“ so stimmig eingefangen hat. Aber nun herrschten andere Sitten. Als sich im Foyer zwei junge Männer meinem Tisch näherten und ich sie einlud, Platz zu nehmen, trat sofort ein Kellner dazwischen, um sie anderswo zu platzieren.
„Setzen Sie sich ruhig“, wiederholte ich und versicherte dem Kellner: „Kein Problem, ich sitze nicht gern allein am Tisch.“ Ich nahm an, er habe mich, den Fremden, vor der Belästigung durch Kubaner schützen wollen. Zehn Minuten später wurde ich eines Besseren belehrt. Da kam ein Mann an unseren Tisch und forderte die beiden unmissverständlich auf, sich anderswohin zu setzen. Zu mir sagte er bloß: Disculpe, compañero. Entschuldigen Sie bitte, Genosse. Damals redete man auch Fremde noch umstandslos mit „Genosse“ an. So konnten wir den Streit also nicht zu Ende führen.
Als die beiden merkten, dass ich aus Berlin kam, hatte sich das Gespräch schon bald um die Mauer gedreht. Der eine, ein Taxifahrer, behauptete, der Westen habe sie aus Angst vor den Kommunisten gebaut, der andere, Lehrer von Beruf, bestand darauf, dass der Osten sie errichtet habe – um zu verhindern, dass die Westberliner ins sozialistische Ostberlin türmten. Beide waren Parteimitglieder, auch wenn sie durchblicken ließen, dass ihre Loyalität mehr „Fidel“ denn der Partei gelte. Als ich entgegnete, der Osten habe die Mauer errichtet, damit die eigenen Leute nicht abhauten, meinte der Lehrer gelangweilt: „Ja, ja, das Argument kennen wir, das ist die offizielle kapitalistische Propaganda, mit uns kannst du ruhig offen reden.“ Dann wurde dem Gespräch leider, wie gesagt, ein Ende gesetzt.
In der DDR war der Sozialismus brav, bieder und preußisch. Wie hätte es in deutschen Landen auch anders sein können?! In Kuba hingegen, in den Tropen, bei diesem Volk von Frohnaturen, in Havanna, das im Rhythmus von Rumba, Salsa, Cha-Cha-Cha schwingt – wie hätte da sozialistische Disziplin je durchgesetzt werden können? Wie oft hatten wir es in Deutschland, Ost wie West, als an einen Fall der Mauer niemand auch nur im Traum dachte, doch gehört: Kuba, das ist nicht Realsozialismus, sondern „socialismo tropical“ – Sozialismus der sympathischen Art. „Kuba ist in vielem preußischer als es das sozialistische Preußen je war“, behauptet Roberto, der Deutschland, Ost wie West, kennen gelernt hat und sich auf der Insel heute wie so viele irgendwie durchs Leben schlägt. Mit seinem langen lockigen Haar sieht er trotz seiner fünfzig Jahre jungenhaft aus. Über Havanna weiß er einfach alles. Er kennt die Politiker und Eierdiebe. Jahrelang hat er als Journalist gearbeitet. Heute ist er arbeitslos.
Und das kam so: Anfang der Achtzigerjahre, als die Schulrektoren in Kuba noch auf ordentlichen Haarschnitt achteten, hatte Roberto in einem Artikel der Juventud Rebelde („Rebellische Jugend“), dem Organ der kommunistischen Parteijugend, beiläufig das Recht auf lange Haare verteidigt. Hatte nicht auch der amtlich vergötterte Che Guevara einen Zopf getragen? Kurzum: ein Beitrag, den man im westlichen Deutschland der frühen Sechzigerjahre etwa in Bravo hätte finden können. Harmlos also, wenn der Artikel in den folgenden Tagen nicht an Toilettentüren und schwarzen Brettern zahlreicher Schulen aufgetaucht wäre und ein heimlicher Kleinkrieg zwischen Putz- und Klebekolonnen eingesetzt hätte. Vermutlich wurde der Chefredakteur vor sein Parteikollektiv zitiert. Roberto jedenfalls bekam eine Verwarnung. Als er kurz darauf in einem Beitrag zum Jahrestag der Revolution einige Gedanken zu viel anstellte, war er seinen Job los und erhielt Arbeit in der Nationalbibliothek zugewiesen. Dort wurde er bald wegen politischer Unzuverlässigkeit entfernt. Und fortan war er für die Reparatur von Liften zuständig. Davon verstand er wirklich nichts. Und so ist er jetzt arbeitslos.
Hacer cola, wie man auf spanisch sagt, Schlange stehen, war schon immer ein Markenzeichen des Sozialismus. „Doch in Kuba“, sagt Roberto, „sind die Schlangen nicht nur Ausdruck des Mangels, sondern auch Objekt staatlicher Disziplinierungsstrategien. Man braucht nur eine „Kamel“-Haltestelle aufsuchen. „Kamele“ heißen riesige Busse, deren Mittelteil tiefer liegt als der vordere und hintere Teil und deren Form tatsächlich an die Wüstentiere erinnert. Nun stehen in vielen Ländern der Welt Menschen an Busstationen Schlange. Wenn sich in Havanna aber ein „Kamel“ nähert, haben sich längst zwei Schlangen gebildet, eine für die Sitzplätze und eine für die Stehplätze. Die Passagiere halten Zettel in der Hand – der erste die Nummer 1, der zweite die Nummer 2 und so weiter –, die von einem Herrn in gelber Jacke, dem organizador de la cola, dem Organisator der Schlange, beim Besteigen des „Kamels“ eingezogen und dann an die Schlange für den nächsten Bus wieder ausgeteilt werden. „Bei Überlandfahrten muss man oft über Tage jeden Morgen neu anstehen“, sagt Roberto, Kenner sämtlicher Tücken des Schlangenalltags, „und wer nicht erscheint, verliert seine Nummer und damit den Platz in der Schlange.“ Ältere Leute stellen auch mal einen colero an, einen Mann, der gegen Entgelt den Platz in der cola, in der Schlange, hält. „Das komplizierte Geflecht der Cola-Kultur mit ihrem Chaos und ihrer Ordnung“, sagt Roberto mit dem Pathos des Philosophen, „ist ein Strukturelement der kubanischen Gesellschaft.“ Seine Ausführungen über die vielen ungeschriebenen Regeln des Schlangestehens geben in der Tat den Stoff für ein philosophisches Traktat her, das noch nirgends geschrieben wurde.
Nicht die US-Blockade, sondern der Zusammenbruch des Sowjetimperiums hat Kuba in eine katastrophale Wirtschaftskrise gestürzt. Die kubanische Revolution war eine Revolution auf Pump. Mit dem Export von aus der Sowjetunion importiertem Rohöl hatte die Insel Mitte der Achtzigerjahre viermal mehr Devisen erwirtschaftet als mit der Ausfuhr von Zucker, ihrem wichtigsten Exportgut. Die revolutionären Errungenschaften im Bildungssystem und Gesundheitswesen, auf die Kuba so stolz war, sind zum großen Teil der Krise zum Opfer gefallen. Wer will noch studieren, wenn das Gehalt eines Ingenieurs in der staatlichen Industrie oder einer Professorin an der Universität ein Bruchteil dessen beträgt, was sich mit dem Verkauf geschmuggelter Zigarren an Touristen oder als Kellner im internationalen Hotel verdienen lässt? In den einst vorbildlichen Krankenhäusern gibt es längst Dollaretagen, in denen man mit der Währung des Feindes bezahlen muss. Das karibische Land, das einmal zum Ostblock gehörte, ist wieder in Lateinamerika angekommen: Es gibt Slums und Massenarmut. Je mehr die positiven Seiten verblassen, desto stärker tritt das negative Erbe des tropischen Sozialismus zutage: das umfassende Spitzelsystem, die Umerziehungslager, in die man ohne Gerichtsurteil wegen „Gefahr für die Gesellschaft“ eingewiesen werden kann, und die politische Apathie einer übergroßen Mehrheit der Kubaner. Auf die Frage, was er einmal werden wolle, sagte Robertos Sohn Pedro ohne zu zögern: „Tourist“. Als Tourist kann man Langusten essen, braucht man nicht Schlange zu stehen, und vor allem kann man als Tourist abhauen. Kuba hat keine Mauer. Nur das endlose, haifischverseuchte Meer.
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