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In der Antarktis überwinterte die DDR noch zwei Jahre

Das Wetter ist schlecht, und Eduard Kohlberg verbringt den 9.11.89 in den Röhren der Forschungsstation in der Antarktis. Jetzt, ganz früh am Morgen, klettert er die Stufen nach oben und vergewissert sich, dass die Wettervorhersage zutrifft. Zu windig ist es, um rüber zur Pinguinkolonie zu gehen und deren Nachwuchs bei ersten Gehversuchen zuzuschauen. Kohlberg steigt wieder herab durch sechs Meter dickes Eis, das die Forschungsstation des westdeutschen Alfred-Wegener-Instituts bedeckt. Jetzt, am Ende des antarktischen Winters, ist Zeit, sich der Büroarbeit zu widmen und das Material in der medizinischen Station aufzufüllen. Denn er ist nicht nur Leiter, sondern auch der Arzt der Neumayer-Forschungsstation.

Mehrere hundert Kilometer entfernt, in der Schirrmacher-Oase, einer Felsinsel im antarktischen Eismeer, vermisst Ulf Bauerschäfer gerade ein Felsplateau neben seiner Station, die der DDR gehört und Georg-Forster-Station heißt. Dort oben soll bald eine All-Sky-Kamera installiert werden, die den kompletten Himmel in Abständen fotografiert. Zum Mittagessen geht Bauerschäfer den einen Kilometer zur sowjetischen Station hinüber. Der Weg ist trotz der Eiseskälte nicht so beschwerlich, er kann auf Felsen gehen. Schon von weitem sieht er Prima, den Deutschen Schäferhund, den die russischen Kollegen mitgebracht haben. Hammelfleisch gibt es heute mal wieder, „zum zehntausendsten Mal“. Am Nachmittag kümmert er sich noch um seine Magnetometer, die das Magnetfeld der Antarktis messen.

Am Abend sitzt der Physiker, erst dreißig Jahre jung, mit den anderen elf oder zwölf Kollegen im Herrenzimmer zusammen und bespricht die Aufgaben für den morgigen Tag, „Messungen, Messungen, Messungen“ und die Verwaltung und Prüfung der Vorräte, Vorbereitung auf die Sommerzeit. Später macht er sich auf den Weg in seinen Container, in dem er noch alleine schläft, bis der neue Kollege aus Berlin eingeflogen wird. Noch ahnt er nicht, was an diesem Tag in seiner Heimat vor sich geht. Wenn, dann hätte er sich noch ans Funkgerät gehängt und der Deutschen Welle gelauscht. Aber so fällt er ahnungslos in einen tiefen antarktischen Schlaf.

Erst am folgenden Tag, dem 10. November, stürmt der Funker ins Herrenzimmer und stammelt: „In Berlin tanzen sie auf der Mauer.“ „Ach komm“, sagt Bauerschäfer nur, spurtet aber doch zum Radio, um sich per Funk von der Neuigkeit zu überzeugen. Schnell wird der eiserne Vorrat an Alkohol hervorgekramt. „Hoch die Tassen!“, sagt ein Kollege, „Jetzt können wir endlich raus.“ Der Wissenschaftler war, außer am Südpol, „noch nie draußen“.

Doch richtig rauskommen sollte er erst im März des übernächsten Jahres. Noch mit dem DDR-Pass, aber ohne Westgeld, wird er aus der Antarktis kommend Südafrika erreichen. Dort wird ihn seine Freundin erwarten, mit ein paar Travellerschecks in der Handtasche. Dort werden sie sich ein Auto mieten und durch das Land reisen, in dem die Apartheid gerade abgeschafft wurde: seine erste richtige Auslandsreise. Bernd Dörries

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