Ein Automat, ein Automat!

Es war die Chance, einmal das zu tun, was Fernsehleute am allermeisten hassen: in die Kamera winken – live. Ein Besuch bei Jörg Wontorra und der „ran“-Maschine im nagelneuen Berliner Sat.1-Studio    ■ Von Michael Ringel

Im Inneren der „ran“-Maschine verlieren selbst Wontorras Texte ihren Schrecken. Ich klatsche wie besessen

Zehn Jahre lang habe er am Gendarmenmarkt gelebt, erzählte kürzlich ein Kollege. Dann sei Sat.1 gekommen – und damit die Ramme. Einen ganzen Block habe der Sender entkernt und auf ein neues Fundament gestellt. Die Ramme habe Eisenstreben in den Boden gehämmert. Jeden Tag. Das Viertel zitterte. Er habe kaum mehr einen vernünftigen Satz schreiben können. Also musste er aufs Land ziehen. Sat.1 bewegt. Heute könnte ich auch etwas bewegen. Tun, was sie am meisten hassen: Ich würde winken. Live.

Berlin. Gendarmenmarkt. Vor kurzem hat Sat.1 sein neues Zentrum in der Jägerstraße bezogen. Bis auf einige kleinere Abteilungen und die Sendetechnik, die noch bis zum kommenden Jahr in Mainz bleibt, ist das gesamte TV-Unternehmen jetzt in Berlin. Umgeben von Fassaden alter Häuser, die Vielfalt signalisieren. Dahinter liegt ein geschlossener, moderner Medienkomplex. Wegen des Denkmalschutzes gibt es an keiner Wand ein Firmenlogo. Nur aus der Ferne sind auf dem Dach die riesigen Parabolschirme mit dem Sat.1-Zeichen zu sehen.

Am Samstagnachmittag warten schon 50 Menschen vor dem Eingang zum „ran“-Studio. Kegelclubmitglieder und Fußballfans. Aus ganz Deutschland angereist und fein gemacht. Oder das, was sie dafür halten. Kurz nach 17 Uhr ist Einlass. Für die mittlerweile etwa 120 Gäste gibt es kostenlose Getränke. „Kein echtes Bier! Warum, erfahren Sie drinnen“, beginnt die Maschine zu schnurren. Der gesamte Abend ist kostenlos, erfährt man schnell von den Umstehenden. Für Karten müsse man nur ein Fax an den Sat.1-Veranstaltungsservice schicken. Allerdings sei die Warteliste lang, ein halbes Jahr müsse man schon rechnen. Offenbar will der Sender das Publikum regionengerecht mischen und nicht nur Berliner Zuschauer im Studio haben.

Schon geht es hinein. Eine Treppe hinab. Das „ran“-Studio ist überraschend klein. Mit unbequemen Holzbänken ausgestattet, die nicht für alle Zuschauer reichen. Das Schwenkfutter sucht seine Plätze. Man wird platziert. Mancher muss auf der Treppe sitzen. Es würden stets mehr eingeladen als hineingehen, erklärt die verantwortliche Kraft: „Wir wollen es doch etwas heimelig haben.“ Ich fühle im Jackett mein weißes Miniplakat mit der Aufschrift: „Ich grüße meine Mutti.“

Unter der Decke hängt Scheinwerfer neben Scheinwerfer. Mit kaum hörbaren Kommandos für die Kopfhörerträger dirigiert der Regisseur von der Galerie aus das Geschehen. Unten übernimmt der verkabelte Aufnahmeleiter. Zeitlupenlangsam weist er mit leiser Stimme Publikum, Techniker und Moderator ein. Doch erst mal winkt er eine Putzfrau heran. Das Positionskreuz für den Moderator soll gut sichtbar sein. Eilig wird der Studioboden gewischt. Angespannt betrachtet das Publikum den Einbruch des wirklichen Lebens in die knallbunte Arena.

Es ist 18 Uhr. Noch 30 Minuten. Die Maschine startet. Lässig gekleidet, wie zufällig von der Straße geholt, sprintet der „Warm-uper“ herein. Zunächst reagiert die Masse verhalten auf seine halbschalen Witze. Dann übt der Anreißer das Klatschen ein. Mit allen Variationen: Johlen, Trampeln, Jubeln. Eine Viertelstunde Zeit hat er, und alle Beteiligten atmen anschließend auf. Die erste Prüfung ist bestanden. Still gehe ich meinen Auftritt durch. Unsichtbares Winken. Noch 15 Minuten.

Dann wird er hereingeführt. Braungebrannt und im graugetönten Schutzanzug: Jörg Wontorra. Das Wontorra. Un automate, un automate. Ein Grinse- und Aufsag-Automat. Commander Data mit eingebautem Chip für Gebrauchskomik. Ein Replikant. Nicht mehr das neueste Baujahr: am Hinterkopf das eingearbeitete Toupet; die Ersatzzähne blenden; eine zu glatte Gesichtshaut, die nur unter den Augen schlecht vernäht ist; die brackwasserfarbenen Ringe zeugen von zu vielen Einsätzen.

„Nur bleifreies Bier haben Sie bekommen?“ schnarrt Wontorra los. „Ha! Ich weiß warum! Noch in Hamburg sagt der Regisseur dem Kameramann, er soll nach rechts schwenken. Das geht aber nicht. Denn da liegt ein Zuschauer.“ Das Publikum grölt. Wontorras Zähne blinken. Er hat sie. Jahrelang war er auf Privatbesuch im Wohnzimmer, und jetzt steht er live da. Er lebt. Wie eine Spieluhrenfigur des 18. Jahrhunderts, die – von einem feinen mechanischen Werk angetrieben – Leben imitiert. Und dabei so nah ans Leben herankommt, dass man die Künstlichkeit der Existenz fast vergessen mag. „Noch eins“, mahnt Wontorra: „Die Sache mit dem Winken.“ Mein Auftritt: Wer klatscht, der darf auch winken. „Wenn Sie im Bild sind, winken Sie nicht.“ Mein Mutti-Poster brennt in der Brusttasche. „Wenn Sie nämlich so machen“, die erhobenen Finger zucken hin und her, „dann denken die zu Hause so von ihnen“: Wontorra dreht die Handfläche nach innen und macht den Scheibenwischer vor dem Gesicht. Das Publikum tobt. Jetzt hat er sie endgültig. Wenn ich jetzt winke, werden sie mich lynchen. Ein Wort von ihm genügt.

Noch fünf Minuten. Die Großbildschirme werden angeworfen. Das Ende von „Alf“ läuft. Der Außerirdische macht seinen letzten Witz, während Wontorra wieder hineingeführt wird. Die ganze Sendung hindurch wird er keinen Schritt ohne Anweisung tun. Der Vorspann. Wontorra blickt in die Kamera, begrüßt das Publikum daheim und im Studio und redet los, ohne Atem zu holen.

Im Inneren der „ran“-Maschine verlieren selbst seine Texte ihren Schrecken. Ich werde mitgezogen und klatsche wie besessen. Ich bin das Publikum, bin der Applaus. Ich habe ein Amt, und mit verantwortungsbewusster Miene nehme ich es wahr. Die Spielberichte sind nur lästige Unterbrechung, die Werbepausen allerdings wertvoll, um Kraft zu schöpfen. Was wollte ich tun, bevor ich hierher kam? Längst habe ich es vergessen. Wie in Trance folge ich jeder Bewegung im Studio und erwache erst wieder, als Wontorra nach der letzten Absage grußlos in der Kulisse verschwindet. Kein Abschiedswort. Kein Lächeln. Kein Autogramm. Der Automat ist abgeschaltet.

Enttäuscht verlassen die Zuschauer das Studio. Ernüchtert muss ich ein Bier trinken. Es ist vorbei. Es hat sich ausgewinkt.

Tickets gibt es bei: „ran“, Jenfelder Allee 80, 22045 Hamburg