Die ironische Krone Berlins

Am 3. Oktober hat nicht alleine das vereinte Deutschland Geburtstag, sondern auch der Fernsehturm. Doch mit dem tun sich deutsche Regierungen schwer    ■ Von Uwe Rada

Würstchenbuden, Folklore, Bier. Wie schon seit neun Jahren wird auch am diesjährigen 3. Oktober in Berlin die Einheit gefeiert. Alte und neue Bundesländer präsentieren sich am Brandenburger Tor, und so mancher Politiker wird entweder zufrieden zurückblicken oder bedeutungsvoll in die Zukunft schauen.

Die weitaus symbolträchtigere Feier zur deutsch-deutschen Geschichte steigt allerdings am anderen Ende des Boulevards Unter den Linden. Zwar wird es auch dort nur Würstchen und Bier geben. Doch der Anlass, der dreißigste Geburtstag des Berliner Fernsehturms, bietet in vieler Hinsicht tiefere Blicke auf die Geschichte der deutschen Teilung und deren Ende als ein willkürlich deklamierter „Tag der deutschen Einheit“. Es ist die Geschichte des Kalten Krieges, der schwierigen Finanzierung „sozialistischer Überlegenheit“ und der ungewollten nationalen Symbole – drüben wie hüben, heute wie damals.

Etwa zur gleichen Zeit, als sich Christa Wolf in ihrem 1990 veröffentlichten Essay „Was bleibt“ die Frage nach dem Fortbestand der DDR stellte, plädierten andere wie etwa der Publizist Friedrich Dieckmann für den Abriss des Berliner Fernsehturms. Weitaus mehr als der umstrittene Palast der Republik, so das Argument, stehe der 365 Meter hohe Zweckbau für die sozialistische Umgestaltung der Hauptstadt der DDR.

Was an diesem Plädoyer verblüffte, war weniger die Verve, mit der die Symbole von 40 Jahren real existierender DDR aus dem Stadtbild getilgt werden sollten. Überraschend war vielmehr die unhinterfragte Übernahme der DDR-Propaganda. Walter Ulbricht jedenfalls hätte Dieckmanns Verdikt geschmeichelt. Schließlich stand der DDR-Staatschef 1969 vor der heiklen Aufgabe, ein Bauwerk als „Stadtkrone“ der DDR zu preisen, zu dem die SED-Führung gekommen ist wie die sozialistische Jungfrau zum Kinde.

Ein Problem hatte Ulbricht, der mit den Worten, die Architektur der DDR müsse „national in der Form und sozialistisch“ im Inhalt sein, bereits Anfang der 50er-Jahre den Bau der Stalinallee vorangetrieben hatte, aber schon vorher. Dieses Problem hieß Bauvorhaben Fernsehturm und war umso größer geworden, nachdem der erste Versuch, die „Aktuelle Kamera“ auch über den westlichen Äther zu schicken, im Jahre 1956 kläglich gescheitert war. Drei Millionen Mark hatte das DDR-Ministerium für Post- und Fernmeldewesen bereits auf den Köpenicker Müggelbergen verbaut, als sich herausstellte, dass die Fernsehturmrechnung ohne die Flugsicherung gemacht wurde. Die DDR-Planwirtschaftler hatten schlicht übersehen, dass sich der Standort des Turms just in der Einflugschneise des Flughafens Schönefeld befand.

Sehr zum Ärger des Genossen Ulbricht war es wieder einmal der kapitalistische Westen, der seine propagandistische Lufthoheit im Kalten Krieg behaupten konnte, während die DDR-Bürger im Norden des Stadtgebiets weiter auf die „Aktuelle Kamera“ warten mussten. Doch das Scheitern des ersten Fernsehturm-Baus war nur Teil des Dilemmas, in dem sich Ulbricht Ende der Fünfzigerjahre befand.

Der andere Teil betraf den Ausbau der Achse von der Straße Unter den Linden über den Marx-Engels-Platz bis hin zur Stalinallee zum repräsentativen Zentrum der Hauptstadt der DDR. Der war in den Augen der SED-Führung umso nötiger geworden, nachdem der Westberliner Senat 1957/58 einen Wettbewerb „Hauptstadt Berlin“ durchführt hatte, der das Ostberliner Stadtgebiet ausdrücklich mit einschloss. Ein darauf hin in der DDR ausgelobter Ideenwettbewerb hatte ein Jahr später die Aufgabe, „der kapitalistischen Ausbeuterwelt des 'Brückenkopfes West-Berlin‘ die siegreichen Ideen des Sozialismus in einem groß angelegten Werk der Baukunst entgegenzustellen“. Dass dieses „Werk der Baukunst“, in dem einmal Regierung und Parlament eines wiedervereinigten, sozialistischen Deutschlands einziehen sollten, weniger den avantgardistischen Ideen der Moderne als vielmehr Ulbrichts Faible für nationale Formen verpflichtet war, zeigte schon die Tatsache, dass die Lomonossow-Universität in Moskau als Vorbild jener „sozialistischen Stadtkrone“ ins Feld geführt würde.

Diesem Beweis sozialistischer Überlegenheit machte freilich nicht nur der Bau der Berliner Mauer 1961 einen Strich durch die Rechnung, sondern auch der chronische Geldmangel der DDR. Hatte bereits das Scheitern des ersten und einzigen Sieben-Jahres-Plans 1962 dazu geführt, dass eine weitere Fernsehturm-Planung – diesmal auf dem Gelände des Volksparks Friedrichshain – aus Kostengründen gestrichen wurde, geriet mit der Zeit auch die Planung für das „zentrale Gebäude“ in Schwierigkeiten. Es war schließlich der 3. Oktober 1963, an dem diese Planungen endgültig in den Schubladen verschwand. Der Grund: In Moskau war von höchster Stelle beschlossen worden, anstelle des riesigen Sowjetpalastes einen kubischen Flachbau zu errichten, wie der Autor Peter Müller in seinem Buch über den Berliner Fernsehturm berichtet. So hat auch der im Westen so ungeliebte Palast der Republik seine Entstehungsgeschichte am späteren „Tag der Deutschen Einheit“ genommen.

Es muss wohl diese Zwangslage gewesen sein, die Walter Ulbricht am 22. September 1964 schließlich zu einer allseits verblüffenden Entscheidung veranlasste. „Nu, Genossen, da sieht man's ganz genau“, rief er den Mitgliedern des Politibüro zu, „da gehört er hin!“ Er, das war der Berliner Fersehturm und der Ort, an dem er plötzlich hingehörte, war das östliche Ende des Marx-Engels-Platzes, jener Ort also, an dem Ulbricht eigentlich keinen schnöden und modernen Zweckbau wollte, sondern seine Stadtkrone Marke Lomonossow. Zur Ironie der DDR-Geschichte wird diese Entscheidung freilich erst, wenn man sich vor Augen führt, dass die städtebauliche Konzeption eigentlich auf einem ganz anderem Entwurf beruhte. Im Zusammenhang mit dem „Internationalen Ideenwettbewerb zur sozialistischen Umgestaltung des Zentrums der Hauptstadt der DDR, Berlin“ hatte Hermann Henselmann, der frühere Chefarchitekt des Berliner Magistrats, bereits 1959 einen Entwurf eingereicht, der wegen seiner advantgardistischen Formensprache für Aufsehen sorgte. Neben einer Marx-Engels-Ehrenhalle in Form eines abgeflachten Ellipsoids hatte Henselmann auch einen „Turm der Signale“ samt einer Kugel an der Turmspitze geplant, die rubinrot angestrahlt an den siegreichen Flug des sowjetischen Sputniks erinnern sollte. Während Henselmann von zahlreichen Besuchern der ausgestellten Wettbewerbsergebnisse Zuspruch erhielt, war die Parteiführung ob der futuristischen Gestalt des Ensembles geschockt. Schließlich hatte Ulbricht den früheren „Kosmopoliten“ Henselmann, der 1950 seine Idee einer „sozialistischen Wohnzelle“ dem Bau der Stalinallee opferte, schon auf der richtigen Seite gewähnt. Umso größer war die Enttäuschung nun. In der Zeitschrift Deutsche Architektur hieß es etwa, ohne das Henselmann-Modell explizit beim Namen zu nennen: „Auch einige andere Entwürfe sind nicht frei von den Einflüssen der westlichen Architektur, und nach wie vor steht vor uns die Aufgabe, uns von den formalistischen und kleinbürgerlichen Einflüssen zu befreien.“

Umso größer war die Genugtuung für Hermann Henselmann. Er, der wegen seines „Turms der Signale“ wieder einmal des „Formalismus“ bezichtigt wurde, lieferte plötzlich und nahezu unfreiwillig die Vorlage für die „sozialistische Umgestaltung“ Ostberlins. Eine Umgestaltung, der vor allem ein chronischer Mangel an Geld sowie zwei gescheiterte Planungen zu Grunde lagen, die bis zu diesem denkwürdigen Tag im Jahre 1964 eigentlich nichts miteinander zu tun hatten.

So wenig freilich der Bau eines „UKW- und Fernsehturms“, wie der im Volksmund genannte „Telespargel“ offiziell heißt, als „sozialistische Höhendominante“ gedacht war, so wenig konnten die Bauarbeiter beim Endspurt 1969 ahnen, dass sie dem vereinigten Deutschland 30 Jahre später eine weitere Ironie bereiten würden. Ursprünglich zum 20. Jahrestag der DDR-Gründung geplant, wurde der Turm nicht am 7. Oktober 1969 feierlich eröffnet, sondern vier Tage früher, am 3. Oktober. Damit wurde aus der Notlösung der DDR-Baugeschichte ein zufälliges Symbol des vereinten Berlin. Und ein ungeliebtes obendrein, wie die von offizieller Seite geübte Ignoranz gegenüber dem Turm zu den Feierlichkeiten am „Tag der deutschen Einheit“ beweist.

Wenn am 3. Oktober Bierfahnen und Bratwurstduft über die „Linden“ ziehen, ist die deutsche Geschichte nicht weit. Auch nicht die jüngste.

Das betrifft nicht nur den anhaltenden Streit um die Autorenschaft des Turms, sondern auch einen anderen „zentralen Ort“ der deutschen Geschichte. Zwischen Brandenburger Tor und Fensehturm gelegen, harrt der Berliner Schlossplatz noch immer seiner Nutzung. Auch die Regierung des vereinten Deutschland will nicht hinter Walter Ulbricht zurückstehen. Wo der Palast der Republik dem Abriss noch immer trotzt, soll wieder eine „Stadtkrone“ her, auch „national in der Form“ (eines Schlosses), nur eben kapitalistisch im Inhalt.

Das Problem ist das gleiche wie zu Ulbrichts Zeiten: Niemand will sie finanzieren. Deutsch-deutsche Geschichte ist immer auch deutsche Geschichte. Nur, dass der Pragmatismus, mit dem Ulbricht seinerzeit zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen hat, am Schlossplatz nur schwer denkbar ist. Oder will irgendwer ernsthaft vorschlagen, den bislang so glücklosen Großflughafen Schönefeld Unter den Linden zu bauen?