Das Proletariat hält Distanz zum Führer

■ Mit der Parade in Peking will Jiang Zemin aus dem Schatten seiner Vorgänger treten

Peking (taz) – Die Panzer sind schon aufgefahren, als drei ältere Frauen im blauen Arbeitskittel mit langsamem Besenschwung Sandkörner aus der Wüste Gobi von der Straße des Ewigen Friedens fegen. Es scheint, als nähmen die Frauen keine Notiz von den großen Feierlichkeiten, die nun im Herbstwind beginnen: Kanonen donnern, der Parteichef salutiert, und die Panzer rattern. Kaum aber ist das Spektakel vorbei, betreten die drei Frauen als erste wieder die Straße. Weiter weht es Sandkörner. Weiter gibt es Arbeit. So lässt das chinesische Proletariat die Kommunistenshow ruhig an sich vorüberziehen und wartet auf seine nächste Chance.

Niemand glaubt, dass sich diese Chance mit dem Namen Jiang Zemins verbindet. Doch gestern, am 50. Gründungstag der Volksrepublik China, gab es keinen andern Namen zu feiern. Jiang, der das Land seit zehn Jahren eher unauffällig regiert, will endlich aus dem Schatten seiner beiden großen Vorgänger Mao Tse-tung und Deng Xiaoping treten. Dazu hat er die Massenparade, die den Panzern über die Straße des Ewigen Friedens auf den Tiananmenplatz folgt, in drei Teile aufgliedern lassen. Zunächst die Mao-Ära (1949 – 1976) mit karnevalistischen Umzugswagen aus der Revolutionszeit, dann die Deng-Ära (1978 – 1997) vornehmlich in Grün, dargestellt als Zeit von Hoffnung, Reform und Fortschritt, und schließlich die unvollendete Jiang-Ära, für die futuristische Festwagen auffahren, von denen Satelliten ins 21. Jahrhundert abgeschossen werden. Das sieht schön aus und bekommt den Beifall des Publikums. Aber es macht den Parteichef, der vom Tor des Himmlischen Friedens winkt, noch immer nicht erkenntlicher.

Überhaupt läuft alles ganz harmlos ab. Jiang hält eine Rede, in der er niemanden angreift. Dann demonstrieren die veralteten Militärfahrzeuge, dass China keine militärische Großmacht ist. Und am Ende der Umzugs laufen Kinder im fröhlichen Durcheinander, was auf ein angenehm entspanntes Verhältnis der Jüngsten zur Parteidisziplin hindeutet.

Im Fernsehen, das die Parade den ganzen Tag lang wiederholt, sieht natürlich alles noch schöner aus. Das bestätigt eine kleine Frauenrunde im Tante-Emma-Laden eines Pekinger Arbeiterviertels. Offenbar handelt es sich um ein Kaffeekränzchen der Partei, denn frau ist entzückt von den schmucken Soldaten und lässt sich von Panzern und Raketen tief beeindrucken. Im Vergleich zu den Zeiten Maos und Dengs sei die Parade sogar viel üppiger und bunter. Und fragt man die Damen nach ihrem Lieblingsführer, so antworten sie brav, Mao sei der Gründer und Deng der Reformer der Republik. Und Jiang? Er sei eben die Fortsetzung von Deng. Das aber ist die Pointe: Nicht einmal in dieser gnädigen Runde verfügt der Mann über ein eigenes Standing.

Bei den Männern, die unweit entfernt unter einer Akazie das Brettspiel Go spielen, verhält es sich nicht anders: „Fragen Sie nicht nach Jiang Zemin. Das ist zu politisch“, antworten die Spieler und grinsen: „Jetzt weiß wohl die ganze Welt, wie reich China ist. Haben Sie die vielen Luftballons gesehen?“ Das ist ironisch gemeint, und man merkt es den Männern an, dass sie sich ihre Feiertagslaune nicht verderben lassen wollen. „Sie wohnen in Peking? Dann wissen Sie doch, was wir denken!“, rufen sie.

An diesem hellen Herbsttag bleibt jedenfalls vieles im Dunkeln. Mögen es die Chinesen, wenn Jiang sein Porträtbild während der Parade und in den Fernsehsendungen in gleicher Größe neben die Bilder seiner Vorgänger hängen lässt? Deng wäre so etwas zu Lebzeiten nie eingefallen. Er verbat sich jeglichen Personenkult und ließ seine Asche im Meer verstreuen. Hat jetzt sein Nachfolger, der für viele Chinesen so lange erträglich war, wie er nicht groß in Erscheinung trat, den Bogen überspannt? Oder ist der Führer und seine Manifestation vor den Toren des Kaiserpalasts heute schlicht nicht mehr so wichtig wie früher?

Während der Parade blies Jiang gelegentlich die Backen auf und guckte in den Himmel. Das besaß clowneske Züge von der Art, wie sie der nordkoreanische Führer Kim Jong Il an der Tag legt, und fällt natürlich auf. Gleichwohl haben die Chinesen keine Angst vor Jiang, wie sie die Nordkoreaner vor Kim haben. So kündigt der 50. Gründungstag der Volksrepublik andeutungsweise von einem Gesellschaftskompromiss, der die Partei machen lässt, was sie will, solange sie die unter Deng erreichten Fortschritte nicht zurücknimmt.

Man mag sich darin aber auch täuschen. Zumal nach den Reden des Festtags die Ziele der Partei unklarer erscheinen als zuvor. Auffällig abwesend ist der Diskurs der Reform. Jiang nimmt das Wort nur einmal in den Mund – als müsse sich in seinem Staat nichts mehr ändern. Und auch Premierminister Zhu Rongji, dem eigentlichen Reformerstar der jetzigen Regierung, sind bei einer Festrede nicht seine eigenen Wörter in den Mund gelegt worden. „Die Errungenschaften der vergangenen 50 Jahre müssen der großen, gloriosen und korrekten Kommunistischen Partei Chinas gutgeschrieben werden“, sagt Zhu. Noch immer steht zu befürchten, dass nicht alle Mitglieder des Politbüros wissen, wie unsinnig solche Formulierungen sind und wer in Wirklichkeit für sie die Straße kehrt. Georg Blume