Der Bodenkrieg im Kaukasus hat begonnen

Die Invasion russischer Bodentruppen in Tschetschenien ist in vollem Gange. Über Ziele und Ausmaße der Operation herrscht Unklarheit. Russische Experten warnen vor einem militärischen Desaster  ■   Von Barbara Kerneck

Moskau (taz) – Dass die Streitkräfte der Russischen Föderation in Tschetschenien einen ausgewachsenen Bodenkrieg begonnen haben, daran zweifelt niemand mehr. Gestern stellte sich nur noch die Frage, wie weit sie bereits auf tschetschenisches Territorium vorgedrungen sind. Unklar bleiben auch die Ziele der militärischen Operation. Präsident Boris Jelzins stellvertretender Stabschef, Igor Schabdurasulow, hatte am Donnerstag erklärt, dass ein Plan des Verteidigungsministeriums für eine Bodeninvasion gebilligt worden sei. Offiziell weder bestätigt noch dementiert von der russischen Regierung wurden verschiedene Agenturmeldungen, denen zufolge sich gestern an die 10.000 föderale Soldaten mit Panzern 80 Kilometer tief im Inneren der kleinen Bergrepublik befanden.

„Können Sie bitte einmal genau klären, ob es sich um 80 Kilometer oder 80 Meter handelt?“ fragte ein verzweifelter Moderator der Fernsehgesellschaft NTV seinen Korrespondenten vor Ort. Aber auch er erhielt darauf keine eindeutige Antwort. Indessen hatte die tschetschenische Führung schon am Donnerstag verlautbart, dass föderale Panzer zehn Kilometer weit auf ihr Territorium vorgedrungen seien, sich dann aber um die Hälfte des Weges wieder zurückgezogen hätten.

Derweil setzt sich der massive Aufmarsch von Truppen der föderalen Armee wie auch von Sondereinheiten des Innenministeriums an den tschetschenischen Grenzen fort. Mindestens 20.000 Soldaten befinden sich nach Schätzung von Fachleuten bereits in der Nachbarrepublik Dagestan und in Nord-Ossetien. Fortgesetzt werden auch die intensiven Bombardements Tschetscheniens aus der Luft. Neben diversen strategischen Angriffspunkten zielten sie bisher auch an mindestens drei Tagen auf eine Bergstrasse, entlang derer Flüchtlinge nach Georgien zu entkommen versuchen.

Viele Militärfachleute meinen, dass das Ziel des Einmarsches der Fluss Terek bilde, der etwa 15 Kilometer entfernt von der tschetschenischen Hauptstadt Grosny und stellenweise bis zu 40 Kilometer von der Grenze entfernt fließt. Ihn wolle man als natürliche Grenze benutzen, um den Rest des Landes durch einen Cordon Sanitaire abzuriegeln. Die Moskauer Tageszeitung Sewodnja spekulierte dagegen am Donnerstag, die Föderalen wollten den ganzen Staat besetzen, um die islamisch-fundamentalistischen Guerillakämpfer Schamil Bassajews und Hattabs in die Berge zu treiben – in der Hoffnung, dass sie dort erfrieren.

Welches auch immer ihr Plan ist, die föderalen Truppen haben maximal drei Wochen Zeit, bevor sich das Wetter über den unzugänglichen kaukasischen Bergen gegen sie wenden wird. In Russland gilt es eigentlich als Binsenweisheit, dass man eine Offensive nicht ausgerechnet zu Beginn des Winters beginnt. Der Gegner der Föderalen besteht außerdem nicht mehr aus eher laienhaft ausgerüsteten Freischärlern, wie im vorigen Tschetschenien-Krieg 1994 –1996, sondern aus technisch hochgerüsteten und vorzüglich trainierten professionellen Kämpfern. „Ich verstehe Russlands Militärstrategie nicht“, sagt Pawel Felgenhauer, ein Moskauer Verteidigungsexperte: „Ich fürchte, dass Russland hier in ein totales militärisches Desaster rennt.“

Ruslan Auschew, Staatspräsident der Nachbarrepublik Inguschetien, die in den letzten Tagen an die 60.000 Flüchtlinge aus Tschetschenien aufgenommen hat, sagte dazu gestern auf einer Pressekonferenz: „Wenn sie Krieg führen wollen, dann sollen sie ihn führen. Die eigentliche Frage wird sich erst danach stellen. Wenn diese Republik aufgerieben und in die Knie gezwungen ist, was soll man dann mit ihr machen? Wer wird künftig dort leben? Wer wird dort auf wen hören? Sie wollen die Abreken (Wort für kaukasischen Guerilla-Einzelkämpfer – Anm. d. Red.) fangen? Von den Abreken dort, die in den 20er-Jahren in die Berge gegangen waren, als man ihnen schon einmal so zusetzte, haben sie den Letzten erst 1976 erschossen. Zählen Sie selbst nach: 50 Jahre hatte er sich dort gehalten.“