„Allah ... irgendwas“

Es knackt, es rauscht: Wie Tonbänder im Prozess um den Lübecker Brand den Angeklagten Safwan Eid entlasten  ■   Aus Kiel Heike Haarhoff

Allmächtiger, gleich schnarcht er. Mitten im Gericht. Daumen und Zeigefinger massieren schon die geschlossenen Augenlider. Jetzt kippt der Kopf zur Seite, strauchelt, stößt unsanft an die Stuhllehne. Jean-Daniel Makudila schreckt hoch, blinzelt peinlich berührt, müht sich um Konzentration. Das hier ist sein Prozess. Alle seine fünf Kinder hat er verloren, seine Frau sowie vier Nachbarn. Er darf nicht einschlafen.

Erstickt, verbrannt, in den Tod gesprungen sind sie, in jener Nacht im Januar 1996, als ihr Zuhause, eine schäbige Flüchtlingsunterkunft in Lübeck, in Flammen aufging. Und er überlebte. Nur, weil er zufällig nicht daheim war. Er darf nicht einschlafen. Er muss herausfinden, wer das Feuer gelegt hat. Im Namen der Toten, der 38 Verletzten. Und dann sackt er in sich zusammen.

Doch was Nebenkläger Jean-Daniel Makudila hier im Kieler Landgericht hören könnte, wenn er denn nicht so schrecklich ermüdet wäre, ist ohnehin kaum zu verstehen. Es knackt, es rauscht, es erklingen kehlige Laute aus den Lautsprechern im Verhandlungssaal, Fetzen einer Unterhaltung auf Arabisch. Um sie dreht sich hier alles, seit vier Wochen schon, seit der Prozess um den Lübecker Brand begonnen hat, etwa 15 Stunden Tonbandgespräche miserabelster Aufnahmequalität, die aus dem Arabischen ins Deutsche übersetzt werden müssen.

„Allah ... irgendwas“, könnte es gerade geheißen haben. „Beim Allmächtigen, bei Gott“, übersetzt Aziz Yachoua. Yachoua ist Sprachsachverständiger. Er sitzt vor dem Bandgerät, das Gesicht dem Richter, dem Staatsanwalt und der Verteidigung zugewandt. Den Rücken kehrt er Jean-Daniel Makudila sowie den anderen Nebenklägern, der Familie el Omari. Einen Sohn haben die el Omaris in dem Feuer verloren.

Yachoua hat technische Probleme. Hektisch drückt er die Stopptaste, spult das Band zurück, hört etwas. „Bei Gott, ich bin froh und traurig ...“ Jetzt mischt sich Mohammad Wannous ein, der zweite Sprachsachverständige: „Darf ich das noch einmal hören?“

Beweismittelaufnahme heißt das im Juristendeutsch, heute könnte sie abgeschlossen werden. Erhellendes, das sei vorweggenommen, hat sie bislang nicht zu Tage gefördert. Jean-Daniel Makudila sagt: „Ich habe keine große Hoffnung, hier noch etwas über die Wahrheit herauszufinden.“

Makudilas Muttersprache ist Lingala, in der Schule im Kongo lernte er Französisch. Seit ungefähr zehn Jahren lebt er in Lübeck, Deutsch versteht er kaum, Arabisch überhaupt nicht. Doch zu begreifen, was hier abgeht, ist auch bei besserer Sprachkenntnis ein schwieriges Unterfangen: Ein Gericht, das angetreten ist, den Tod von zehn Menschen aufzuklären, vernimmt statt Zeugen nur noch Tonbänder, verwandelt sich zu diesem Zweck in ein Sprachlabor und lässt zwei Übersetzer wochenlang über Sinn und Bedeutung einzelner Worte streiten – so etwas hat es vor diesem Prozess in Deutschland noch nicht gegeben.

So etwas hat Gründe, so etwas hat eine Vorgeschichte. Die vermeintlich brisanten Gespräche hat, soviel steht fest, Safwan Eid geführt, ein junger Libanese, ein ehemaliger Nachbar der Makudilas und der el Omaris in der Lübecker Flüchtlingsunterkunft. Eid redete im Gefängnis mit seinem Vater und seinen Brüdern, nicht ahnend, dass die Wanzen der Staatsanwaltschaft die Unterhaltungen heimlich aufzeichnen würde – dreieinhalb Jahre ist das alles her. Damals war Eid 20 Jahre alt, in Untersuchungshaft und unter Verdacht, das Flüchtlingsheim in Brand gesteckt zu haben. Es folgte 1996 ein erster Prozess in Lübeck, es folgte 1997 ein Freispruch aus Mangel an Beweisen, es folgte 1998 ein Urteil des Bundesgerichtshofes – angestrengt nicht etwa von der Staatsanwaltschaft, sondern von den Nebenklägern Makudila und den el Omaris: Die Tonbänder, im ersten Prozess als Beweismittel nicht zugelassen, enthalten möglicherweise Hinweise darauf, dass Safwan Eid doch der Täter sein könnte. Seit vier Wochen steht Eid nun vor dem Kieler Landgericht.

Es ist einer dieser endlosen Verhandlungstage. Seit drei Stunden schleppt sich die Übersetzung hin. Es ist stickig und heiß im Saal, aber die drei Fenster, hinter denen die frische Herbstluft weht, dürfen nicht geöffnet werden. Die Bänder sind ohnehin schon schwer genug zu verstehen. Außerdem soll es gerade um eine sehr entscheidende Stelle gehen, eine, die den Angeklagten angeblich schwer belastet: „Wenn ich den Koran lese, erkenne ich meine Fehler. Und ich weiß, was ich in dem Gebäude gemacht habe.“ So soll es Safwan Eid im Februar 1996 zu seinem Bruder gesagt haben, so jedenfalls übersetzte damals Aziz Yachoua den ermittelnden Behörden das gesprochene Wort.

Das Band wird vor- und zurückgespult – nichts als undeutliche Laute. Dann endlich ist die Stelle gefunden. „Und ich weiß, was ...“ hört Yachoua auch diesmal, dreieinhalb Jahre später, ganz deutlich. Sein Kollege Mohammad Wannous dagegen hört nur „ich weiß“. Wannous, im Berufsleben Sprachwissenschaftler, holt zu einem linguistischen Vortrag aus über Tonhöhen und seltene vokalische Lenkungen des Partizips, erklärt langwierig, warum er das Wörtchen „was“ nicht hören kann.

Jean-Daniel Makudila droht endgültig in Tiefschlaf zu fallen, die Zuschauer werden unruhig. Doch der Vorsitzende Richter Jochen Strebos ist ein geduldiger Mann. Er hat ein Gespür dafür, wie kompliziert diese Übersetzungen sein müssen. Also lässt er Wannous ausreden, bis der endlich zum Kern der Sache vordringt: „Nach diesem 'ich weiß‘ höre ich eine Anlautsilbe und zwei Auslaufsilben, die für mich zusammen keinen Sinn ergeben, und dann folgt noch ein Wort, auf Arabisch 'bneje‘, auf Deutsch 'Gebäude‘ “.

Jetzt spult auch Yachoua wieder hin und her, doch die Wortfolge „ich – gemacht – habe“, die er einst vernommen haben will, kann er nicht mehr wahrnehmen. Raunen bei den el Omaris. Entlastung für den Angeklagten Eid.

Doch den scheint das gar nicht zu interessieren. Safwan Eid ist viel zu sehr damit beschäftigt, gegen die Müdigkeit anzukämpfen. Mal gähnt und räkelt er sich auf seinem Stuhl, dann wieder scheint er sich ganz auf seine Strichmännchen-Zeichnung zu konzentrieren. Entweder: Er hat das Haus angezündet und ist nun völlig ins Skrupellose abgedriftet, oder aber die Sache, die hier verhandelt wird, geht ihn ganz und gar nichts an. Einiges spricht für die Unschuldsvermutung: die vielen offenen Fragen, die nach dem ersten Prozess geblieben sind. Die ungeklärte Rolle der vier Neonazis, die in der Lübecker Brandnacht mit angesengten Strähnen im Haar und merkwürdigen Erklärungen auf den Lippen aufgegriffen und wieder laufen gelassen wurden. Der mysteriöse Tod eines Hausbewohners, der Spekulationen schürte, das Feuer sei möglicherweise nur gelegt worden, um eine andere Gewalttat zu vertuschen. Die Aussagen vieler Zeugen, Safwan Eid habe keinen Grund gehabt, sein Zuhause anzuzünden. Streit mit anderen Hausbewohnern habe es nicht gegeben.

Doch darum geht es hier nicht. Was zählt, sind die Tonbänder, und die geben nicht viel her.

Es ist Mittagspause. Jean-Daniel Makudila schlurft aus dem Gerichtssaal. Sein Bruder Emmanuel, der ihn stets begleitet, trottet hinterher. Im Hinausgehen drückt er Safwan Eid kurz die Hand. Nein, man hat sich nicht verguckt: Emmanuel Makudila reicht dem Mann die Hand, von dem er doch annehmen müsste, dass der den Tod seiner Familie bewusst oder fahrlässig mitverursacht hat. Macht man sowas? Nicht einmal feindliche Blicke haben Angeklagter und Nebenkläger ausgetauscht, wenn sie sich zufällig im Gerichtssaal begegneten. Es ist eine waghalsige These: Aber könnte es bei dem Verdacht gegen Eid vor allem darum gehen, endlich einen Schuldigen zu finden, egal wen, nur um das Unfassbare, den Schock, den Schmerz und die Wut besser verarbeiten zu können? Weder die Makudilas noch die el Omaris antworten auf solche Fragen. „Wir wollen wissen, wer es war“, sagt Jean-Daniel Makudila und wird plötzlich schroff zu den Journalisten. Wieviel er denn so erwarten dürfe, wenn er hier schon so ungeniert nach seinem Seelenleben ausgefragt werde, will er wissen. „Das steigert doch eure Auflage.“ Er klingt bitter. Es gab Redakteure, die um Fotos der Verbrannten baten, da hatten die Überlebenden von Lübeck ihre Angehörigen noch nicht einmal identifiziert. Jean-Daniel Makudila hat das nicht vergessen.

Die Pause ist vorbei. In den ersten Prozesstagen waren die Zuschauerränge voll besetzt. Mit Palästinensertuch, Jutebeutel, selbst gefärbten Socken hatten sich Beobachter schon früh morgens vor dem Gericht gedrängt. Den „rassistischen“ Prozess, den das „Schweinesystem“ und seine „Nazi-Richter“ gegen einen „unschuldigen Ausländer“ führten, wollte man sich nicht entgehen lassen.

Mittlerweile ist das Interesse erlahmt. Verhandlungstage mit sechs bis acht Stunden mühseliger Übersetzung sind selbst den flammendsten Antirassisten auf die Dauer zu öde. Dazu kommt, dass der Prozess nicht in ihr festgefügtes Weltbild passt. In dem tauchen Ausländer nur als Opfer auf, nicht aber als aktive Ankläger, die einen der Ihren belasten. Nicht ein einziges Mal wird Makudila oder den el Omaris ein Wort des Mitgefühls zuteil.

Weiter geht es mit den Tonbändern, Silbe um Silbe. Doch nahezu alle belastenden Zitate sind plötzlich nicht mehr eindeutig zu identifizieren. Bei einigen liegt es an der schlechten Tonqualität. Andere sind auf Arabisch gut verständlich, haben aber auf Deutsch mehrere mögliche Bedeutungen. So könne der Satz „ich habe sie alle zum Schweigen gebracht“ genauso gut mit „ich habe sie alle beruhigt“ übersetzt werden, räumen Wannous und Yachoua ein.

Yachoua entpuppt sich zusehends als der schlechtere Übersetzer. Er widerspricht sich, er wirkt unkonzentriert, er kann Wörter, die er 1996 noch hörte, nicht mehr finden. Zum Eklat kommt es, als Yachoua einräumt, er habe seinerzeit die Frage Safwan Eids „Wenn ich gestorben wäre, würdet ihr mich so behandeln?“, versehentlich mit den Worten „Wenn ich gestehen würde, weißt du, was das bedeuten könnte?“, übersetzt. Ein schwerwiegender Fehler, der nicht hätte passieren dürfen, sicher. Die VerteidigerInnen stellen einen Befangenheitsantrag.

Richter Strebos mag darüber nicht sofort entscheiden, er will Zeit gewinnen. Er lässt Yachoua gewähren, lächelnd und aufmunternd. Denn er weiß: Wirft er Yachoua wegen Befangenheit aus dem Verfahren, bevor die Übersetzungen abgeschlossen sind, muss er sich einen neuen Übersetzer suchen und alle Bänder noch einmal abhören. Bleibt Yachoua dagegen im Verfahren, demontiert sich und die Beweislage durch eigene Unfähigkeit, ist ein schnelles Prozessende wahrscheinlich – Urteil: Freispruch.

Doch der Verteidigung reicht das nicht. Dass Yachoua überhaupt noch einmal vom Gericht zu Rate gezogen wird, nachdem er bereits vor dreieinhalb Jahren als Handlanger für die Ermittlungsbehörden fungierte, wurmt die Anwältinnen Barbara Klawitter und Gabriele Heinecke ungemein. Konsequent nennen sie ihn „Jahua“. Yachouas Nachname spricht sich „Jaschua“. Würde irgend jemand den Angeklagten beispielsweise Sascha Eid nennen, der Vorwurf des Rassismus wäre ihm gewiss. Die Anwältinnen stört das nicht. Ein Freiberufler, der 70 Prozent seiner Einnahmen durch Übersetzungen für Polizei und Bundeskriminalamt bezieht, kann ihnen nur suspekt sein. „Wo haben Sie denn Arabisch gelernt, im Urlaub im Libanon?“, fragt Heinecke höhnisch. Will Yachoua ihr antworten, fällt ihm sofort Anwältin Klawitter ins Wort: „Herr Yachoua, das war nicht unsere Frage!“ Man will und kann sich in diesem Prozess nicht mehr verstehen.