Sicherheit hat in Japan keine Rolle gespielt

■  Sowohl AKW-Betreiber als auch die Regierung gingen mit Atomenergie verblüffend sorglos um. Nun ermittelt die Polizei

Seit 28 Jahren hatten die rund 33.000 Einwohner der Stadt nur ein einziges Mal an einer Unfallübung teilgenommen

Nach der schlimmsten AKW-Katastrophe, die Japan je erlebt hat, werden nun schwere Vorwürfe gegen die Betreiberfirma JCO laut. Sie soll gegen grundlegende Sicherheitsregeln verstoßen haben. Gegen die Firmeninhaber ermittelt nun die Polizei mit einem Sonderstab. Dabei sollen auch die Büros der betroffenen Betreiber untersucht werden.

Eines ist allerdings jetzt schon klar und wird von Nachricht zu Nachricht deutlicher: Der Skandal nahm schon vor Jahren sowohl auf betrieblicher als auch auf politischer Ebene seinen Anfang.

Den Betreibern zufolge wurde ein Vorschriften-Handbuch unerlaubterweise geändert, um Uranlösungen in Edelstahlbehältern zu befördern.

Damit konnte das Verfahren für die Brennelementeherstellung beschleunigt werden. Mitarbeiter der Anlage berichteten der japanischen Tageszeitung Asahi, das Unternehmen selbst habe gesetzliche Vorschriften missachtet und den eigenen Leitfaden entworfen. JCO hat offenbar auch gar nicht damit gerechnet, dass in der Anlage jemals ein solcher Unfall passieren kann und entsprechend keine Sicherheitsvorkehrungen für notwendig gehalten, wie die japanische Nachrichtenagentur Kyodo meldete.

Das war aber nicht alles. Mittlerweile ist bekannt geworden, dass die drei Arbeiter, die die Kettenreaktion letztlich ausgelöst haben, für ihren Job gar nicht qualifiziert waren. Offenbar in der Annahme, sie hätten es nur mit leicht angereichertem, ungefährlichem Uran zu tun, transportierten die Arbeiter den hochgefährlichen Stoff in Eimer-ähnlichen Behältern, umgingen ein Messgerät und schütteten dann acht mal mehr Uran in das Abklingbecken als zulässig, insgesamt 16 Kilo. Die Hälfte hätte ausgereicht, um die dann folgende Kettenreaktion auszulösen.

Auch bei den darauffolgenden Maßnahmen gab es schwere Pannen. Die Feuerwehrmänner, die an den Unfallort eilten, wurden nicht über eine mögliche radioaktive Verseuchung informiert und schützten sich daher nicht. Zwei von ihnen sind ebenfalls verstrahlt. Die fortlaufende Kettenreaktion konnte erst durch das beherzte Eingreifen von JCO-Arbeitern 20 Stunden später gestoppt werden. Sie wurden nach den wenigen Minuten, die sie sich überhaupt an der Unfallstelle aufhalten durften, ebenfalls auf radioaktive Strahlen untersucht.

Laut Medienberichten in Japan blieb es aber nicht bei den örtlichen Verfehlungen. Auch die Kommunikation zwischen den Regierungsbehörden funktionierte nicht. Als Premierminister Keizo Obuchi gegen 13 Uhr Ortszeit von Reportern zu dem Unfall befragt wurde, also fast drei Stunden danach, hatte er noch nichts davon gehört. Eine Arbeitsgruppe beauftragte er erst zehn Stunden nach dem Unfall mit einer Untersuchung.

Handbücher der Regierung zum Umgang mit Unfällen wurden erst im April neu aufgelegt, entsprechende Übungen hatten kaum stattgefunden. Seit 1971 hatten die rund 33.000 Einwohner der Stadt nur ein einziges Mal an einer Übung teilgenommen.

Bei dem Unglück wurden nach bisherigen Meldungen 55 Menschen verstrahlt, drei von ihnen lebensgefährlich. Die meisten von ihnen sind JCO-Arbeiter, außerdem sieben Golfspieler in der Nähe des Werks. Einer der drei Arbeiter war dem 17.000-fachen der jährlichen Strahlenmenge ausgesetzt gewesen. „Das ist eine tödliche Dosis“, sagte Dr. Kazuhiko Maekawa von der Universitätsklinik in der japanischen Hauptstadt Tokio.

Der Chef von JCO, Koji Kotani, entschuldigte sich bei der Bevölkerung mit einem Kniefall für die „äußerst unzureichende Sicherheitskontrolle“, wurde aber mit wütenden Protesten empfangen. Den Beteuerungen der Regierung, die radioaktiven Werte in dem Gebiet hätten ein normales Niveau erreicht, schenkte die Bevölkerung nur wenig Glauben. Nach den Vertuschungsmanövern bei den Atomunfällen der letzten Jahre herrscht große Verunsicherung. Beim Krisenstab gingen über 2.400 besorgte Anrufe ein. Mehrere tausend Menschen suchten das staatliche Gesundheitszentrum auf, um sich auf radioaktive Verstrahlung untersuchen zu lassen.

Inwieweit auch umliegende Felder radioaktiv verseucht sind, ist noch unklar, Untersuchungen dazu laufen. Zwar ist die Reisernte weitgehend abgeschlossen, es steht aber noch Gemüse. Laut Financial Times hat die Regierung die Bauern aufgefordert, nicht zu ernten, bevor die Sicherheitsüberprüfungen abgeschlossen seien. Maike Rademaker, Berlin