Die Wahrheit jenseits der Großtheorien

■ In Italien ist Adriano Sofri, Gründer der linksradikalen Lotta Continua, bekannt wie ein bunter Hund. Er tut, was in Deutschland fehlt: die Irrtümer von gestern reflektieren

Sofri kann seine Ideen ständig weiter entwickeln und korrigieren. Hier kann man dem Denken bei der Arbeit zusehen

Der „trübsinnige Justizfall Sofri“ sei „auch in Deutschland hinreichend bekannt“, meint Gustav Seibt in seinem Vorwort zu den Aufsätzen Adriano Sofris, die unter dem Titel „Nahaufnahmen“ im Berliner Transit-Verlag erschienen sind. Seibt ist Feuilletonredakteur bei der Berliner Zeitung – seine Annahme halte ich für übertrieben optimistisch.

Denn es ist keineswegs leicht, bei dem verwirrenden Auf und Ab von Verurteilung, Freispruch, Verurteilung, Wiederaufnahmeantrag, Ablehnung des Antrags und Annahme des Antrags auf dem Laufenden zu bleiben. Derzeit sind Sofri und seine Mitangeklagten Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani in Erwartung einer zweiten Wiederaufnahme des 1988 begonnen Prozesses auf freiem Fuß. Beendet ist der Prozess noch nicht.

In Italien ist dieser „trübsinnige Justizfall“ dagegen wirklich allgemein bekannt, weil man sich dessen bewusst ist, dass Verlauf und Ausgang des Prozesses gegen die ehemaligen Führer der linksradikalen Organisation Lotta continua für die Zukunft der Demokratie in Italien eine mindestens ebenso wichtige Rolle spielen werden wie der Prozess gegen den christdemokratishen Ex-Ministerpräsidenten Andreotti.

Sofris großer Bekanntheitsgrad in Italien steht in krassem Gegensatz zu dem „Verschwinden und Verschlucktwerden“ der radikalen Linken in Deutschland, die Seibt konstatiert. Umso wichtiger ist es, Sofri und den „gedanklichen Eigensinn“, mit dem er sich mit den bleiernen Jahren auseinandersetzt, auch hierzulande weiter bekannt zu machen.

Seit Beginn des Prozesses im Jahre 1988 ist Sofri in Italien – wieder – regelrecht zum Medienstar avanciert. Keineswegs nur in linken Zeitungen und Zeitschriften ist er häufig Gastautor, auch das staatliche Fernsehen RAI ließ ihn sogar in Direktschaltungen aus dem Gefängnis in Pisa zu Wort kommen.

Vor allem seit er im Gefängnis saß, nahm Sofri jede Gelegenheit wahr, sich medial mit der Außenwelt in Verbindung zu setzen, denn er betrachtet dies als die ihm gemäße „Art, Widerstand zu leisten“ (Sofri). Gerade weil er dabei öffentlich darüber nachdenkt, was es heute heißen kann, „links“ zu sein, gibt es für ihn keine Berührungsängste. So unterhält er beispielsweise eine regelmäßige Kolumne in den Berlusconi-nahen Blättern Il foglio und Panorama. Sofri schreibt nach eigenem Bekunden ohne „Hemmung oder Rücksicht vor dem weißen Blatt Papier“, und das Schönste für ihn wäre, „wenn ich so schreiben könnte, wie man strickt ...“.

Aus der Fülle der verstreuten Artikel und Beiträge dieser politischen Form einer écriture automatique hat eine Gruppe von Berliner Literaturübersetzern und Dolmetschern eine hervorragende Auswahl getroffen, so zusammengestellt und auch übersetzt, dass zum einen die weit gespannten Interessen und die immer wache Neugier Sofris deutlich werden, zum anderen aber auch die immer wiederkehrenden Grundfragen, um die es Sofri geht.

Die behandelten Themen reichen von einer Betrachtung Hamsuns als möglichem Vorbild für Hitlers Darstellung seiner eigenen Biografie bis zu den „Nahaufnahmen“ aus dem Gefängnisalltag, die dem Band seinen Titel gegeben haben. Im Mittelpunkt aber stehen Sofris sehr eindringlichen, detailgenauen Berichte aus Bosnien und Tschetschenien, wo der Autor sich jeweils längere Zeit aufhielt.

Die Auswahl der Texte zeigt zugleich, dass es Sofri immer wieder um sein eigenes politisches Scheitern und das seiner Generation geht. Noch nachdrücklicher, als er dies in seinem Buch „Der Knoten und der Nagel“ (das auf Deutsch 1998 im Eichborn Verlag Frankfurt/Main erschien) getan hat, sucht Sofri nach anderen Erfahrungen und Einsichten als den „pfeilscharfen, treffsicheren Gedanken“, die ihn damals bewegten. Er widmet sich dem, was er früher im Eifer des Gefechts nicht wahrgenommen oder sogar verachtet hat.

Die Haftsituation ist für diese Überlegungen in gewisser Weise hilfreich, denn wie „Mönche, Seeleute und Frauen“ (sic!) sucht auch der Häftling in „Geduldsspielen und Geduldskünsten“ Zuflucht.

Für die Realität seines Gefängnislebens findet Sofri ein großartiges Bild in Platons berühmten Höhlengleichnis aus der „Politeia“. In den Gefangenen Platons, die nur Schatten an der Höhlenwand wahrnehmen können, sieht er sich, seine Mithäftlinge und all diejenigen porträtiert, die vor dem Fernseher sitzen und die Welt nur als flimmernde Bilder erfahren. Sofri zitiert in diesem Zusammenhang Simone Weil, die im Tonfilm eine „große Ähnlichkeit mit dieser Höhle“ sah, was beweise, „wie tief wir gesunken sind und wie sehr wir uns damit abgefunden haben“.

Der Vergleich hinkt vielleicht ein bisschen, denn bei Platon sind die Schatten immerhin ein Abbild des Göttlichen, und das würden wohl weder Weil noch Sofri dem Kino und Fernsehen zugestehen. Aber auch bei Sofri geht es, wie im klassischen Höhlengleichnis, um die Suche nach der Wahrheit, allerdings nicht um eine Theorie, nicht um ein System, sondern um „eine Wahrheit, die sich nicht geordnet erzählen lässt“, weil sie nur in Bruchstücken und winzigen Lichtblicken zu erhaschen ist. Diese Bruchstücke sammelt Sofri in der erinnernden Begegnung mit Freunden, historischen Ereignissen und Persönlichkeiten.

In dem wunderschönen, sehr persönlichen Porträt der Literatin Natalia Ginzburg bemerkt er, dass die Schriftstellerin sehr häufig sagte: Ich weiß nicht oder ich weiß nicht warum. Diese oder ähnliche Ausdrücke der Unsicherheit, des nur Geahnten, fließen auch in Sofris Sprache ein, und wie Natalia Ginzburg dies tat, richtet auch er seinen Blick zunehmend auf die „familiären Bindungen, die Angelegenheiten des Alltags, der Zeit, die vergeht, des Wartens und der Liebe, der Trennung und des Todes.“ Friederike Hausmann
‚/B‘Adriano Sofri: „Nahaufnahmen“. Transit-Verlag, Berlin 1999, 128 Seiten. Mit einem Vorwort von Gustav Seibt, 28 DM