Der kleine Egon tanzt mit Otto Grotewohl

Egon Krenz, der letzte Staatschef der DDR, legt seine Erinnerungen an den Herbst 1989 vor. Es sind durchaus selbstkritische Bekenntnisse eines Mannes, der heute immer noch ist, was er seit seiner Kindheit war: ein Junger Pionier mit blauem Halstuch  ■   Von Jens König

Als die DDR gegründet wurde, war Egon Krenz 12 Jahre alt und Gruppenratsvorsitzender einer 4. Klasse der Grundschule in Damgarten. Drei Jahre später mischte sich der kleine Egon aus Vorpommern zum ersten Mal in die große Politik ein.

Am 10. März 1952 hatte die sowjetische Regierung in einer Note an die drei Westmächte den Entwurf eines Friedensvertrages mit Deutschland vorgeschlagen. Als Egon zwei Wochen später hörte, dass Adenauer die sogenannte Stalin-Note einfach abgelehnt hatte, war er wütend. Er schrieb einen Protestbrief und schickte ihn an die Pionierzeitung nach Berlin. Ein paar Tage später, als Egon von der Schule nach Hause kam, lief ihm seine Mutter aufgeregt entgegen. Ihr Sohn hatte Post bekommen, einen Brief auf Büttenpapier mit dem Absender: Regierung der Deutschen Demokratischen Republik. Der Ministerpräsident.

Der kleine Egon las überrascht, dass ihm Otto Grotewohl, der Ministerpräsident, geschrieben hatte. Auf geradem Wege war Egons Protestbrief an die Pionierzeitung beim Regierungschef gelandet. „Du hast richtig erkannt“, schrieb Grotewohl an den Jungen Pionier, „dass die Note der Sowjetregierung an die drei Westmächte für das deutsche Volk, für die Welt, eine gewaltige Bedeutung hat. Trete weiter so für den Frieden ein und denke immer daran, dass alles, was der Festigung unserer DDR dient, dazu führt, den Frieden zu erhalten und die Einheit Deutschlands zu verwirklichen.“

Glaube keiner, dass Egon Krenz über diese kleine Propagandanummer Anfang der Fünfzigerjahre heute lachen kann. Er platzt immer noch vor Stolz, dass ihm der DDR-Ministerpräsident einen so cleveren Tipp gegeben hat. „Das blieb viele Jahre ein wichtiges Motiv meines politischen Handelns“, schreibt Krenz fast fünfzig Jahre später etwas hölzern.

Vielleicht sagt diese Episode schon alles über Egon Krenz. Seit er zwölf war, hat er immer ein Amt gehabt: in der FDJ, in der Volkskammer, im SED-Zentralkomitee, im Nationalen Verteidigungsrat, im Politbüro. Am Ende, 1989, war er Staatsoberhaupt der DDR. Aber in all diesen Funktionen blieb Egon Krenz der, der er schon 1952 war: ein Junger Pionier, strebsam, fleißig, ehrgeizig, nicht besonders ausgebufft. Er konnte machen, was er wollte, er sah immer so aus, als trage er sein blaues Pionierhalstuch spazieren. Und so benahm er sich auch. Es gibt ein in der DDR sehr bekanntes Foto von 1971. Darauf tanzt der FDJ-Zentralrat mit dem halben SED-Polititbüro eine der berüchtigten Funktionärs-Polonaisen. Vorneweg Egon Krenz, sein berühmtes Lächeln auf den Lippen, dahinter, die Arme auf seinen Schultern, Erich Honecker. Es sieht aus, als sei die Zeit kurz nach 1949 stehen geblieben. Der kleine Egon tanzt mit Grotewohl.

So einer wie Krenz, ein Kind der DDR, ein Junger Pionier auf Lebenszeit, ist natürlich nicht in der Lage, sein Land vor dem Untergang zu retten. Krenz wollte das aufrichtig, das ist ja auch ein Grund, weswegen er sein Erinnerungsbuch über den Herbst 1989 geschrieben hat – aber er versagte vollständig. Seine Mission scheiterte gleich am Anfang: Nur sehr zaghaft ging er im Sommer 1989 daran, seinen Übervater Erich Honecker zu stürzen. Egon Krenz erzählt in dem Buch sehr offen über seine Skrupel, gegen den Mann, dem er 1951 auf einer Konferenz der Jungen Pioniere in Rostock das erste Mal begegnet war und dem er in seinem späteren politischen Leben alles verdankte, zu putschen. Als er es dann doch tut, ist es um Jahre zu spät.

Die Passagen, in denen Krenz über sein Verhältnis zu Honecker schreibt, gehören zu den eindrucksvollen Stellen des Buches. Sie sagen mehr über die politische Sozialisation von Millionen DDR-Bürgern als zehn Standardwerke à la „Wie funktionierte die DDR?“. Von der Inhaftierung führender Parteimitglieder im faschistischen KZ bis hin zur Einheit der SED – Krenz hat alle Totschlagargumente gegen radikale gesellschaftliche Veränderungen im Gepäck. Je länger er seine halbherzigen Versuche schildert, die DDR und ihre führende Partei zu retten, desto tragischer wirkt Krenz in seiner Rolle als verkannter Held im deutschen Herbst.

Manchmal könnte man fast Mitleid haben mit dem groß gewordenen Jungpionier. Im August 1989, die DDR gerät gerade aus den Fugen, will Krenz im Politbüro die innenpolitische Lage diskutieren. Honecker lehnt das ab. Er greift sich die Vorlage von Krenz und schließt sie vor dessen Augen in seinen Panzerschrank. „Du kannst in Urlaub gehen. Ich wünsche dir gute Erholung!“, sagt Honecker kühl zu Krenz. „Erich, ich kann jetzt keinen Urlaub machen“, antwortet Krenz verzweifelt. „Doch“, sagt Honecker, „nimm dich nicht so wichtig. Ich war auch im Urlaub.“ Und Krenz geht in Urlaub. „Was kann ich da noch antworten“, fragt Krenz in seinem Buch, „wenn der Mann, der die Richtlinien der Politik bestimmt, nicht bereit ist, den Ernst der Lage wenigstens zur Kenntnis zu nehmen?“ Ja, was wohl?

Der größere Teil des Buches ist in Form eines Tagebuchs geschrieben. Krenz berichtet eigenen Angaben zufolge so, wie er damals gedacht hat, ohne später gewonnene Erkenntnisse als damalige Überzeugungen auszugeben. Das ermöglicht zum einen, seine Veränderungen im Herbst 1989 unmittelbar mitzuerleben. Zum anderen unterstreicht diese Form, dass Egon Krenz alles andere als ein sogenannter Wendehals ist. Er hat seine Überzeugungen nicht dem Zeitgeist geopfert. Das macht sein Buch streckenweise unerträglich, weil es seitenweise die alten Gewissheiten wiederholt. Aber es lässt seine persönliche Suche nach Fehlern und Versäumnissen auch glaubwürdig erscheinen.

Am Schluss seiner Erinnerungen jedoch hält sich Krenz wieder an seinen Überzeugungen von 1949 fest. „Denunzieren werde ich nichts und niemanden“, bekennt er. „Die DDR war mein Land.“ Na und! Es war auch das Land von Millionen anderen. Manche sind daran sogar zugrunde gegangen. Aber das ist eine andere Geschichte. Keine für Junge Pioniere. Egon Krenz: „Herbst '89“. Verlag Neues Leben, Berlin 1999, 400 Seiten, 39,80 DM