Die Sünden der Sanierung

Standort Deutschland (3): Auf der Annakirmes in Düren wird die Stadt an der Rur einmal jährlich im Sommer dafür gefeiert, dass sie „net janz scheef, ävver och net jraad“ ist. Der Verfall des Reviers spiegelt sich in den Problemzonen der Neustadt wieder  ■   Von Thomas Sakschewski

Josef Vosen kann nicht ruhig sitzen. Immer wieder springt er auf, sucht auf seinem Schreibtisch, auf dem sich die Vorgänge, Unterlagen und Schriftwechsel stapeln, nach Gedenkschriften und Broschüren. Bei der Einweihung einer Heinrich-Böll-Stele im Landtag von Nordrhein-Westfalen steht er in vorderster Reihe, bei der Übergabe von Häusern für rückkehrwillige Flüchtlinge, die die Gemeinde in Bosnien bauen ließ, blickt er in die Kamera.

Der passionierte Zigarrenraucher, dem im Eifer des Gespräches schon einmal die Asche auf das Revers des dunklen Anzuges rieselt, sitzt im Rathaus von Düren im ersten Stock. Das heißt, er saß hier bis zum 26. 9. 1999, bis zu den Stichwahlen nach den für die SPD so verheerenden Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen. Seit diesem Datum sitzt ein Neuer auf seinem Bürgermeisterstuhl, einer von der CDU. Paul Larue heißt der, und damit endet die Epoche Vosen in Düren. Fünfzehn Jahre war Josef Vosen Bürgermeister der Stadt, den Ratsmitgliedern galt er fast als omnipräsent. Wähnten sie ihn noch bei der Betreuung der Wohnungsbauten in Bosnien („Wir sind die Stadt in Deutschland, die als einzige alle bosnischen Kriegsflüchtlinge in ihre Heimat zurückbringen konnte, und das ohne Polizei, ohne Ausländerämter, ohne Zwangsabschiebung, auf völlig freiwilliger Basis“), schob er schon das nächste Projekt an, den Umbau einer Panzerkaserne zum Autozentrum („unsere Planung ist jederzeit offen für Veränderungen. Wenn jemand kommt, der von Interesse ist, werden wir die Planung blitzschnell auf ihn umschreiben“). Vorbei das alles. Bei den Stichwahlen erhielt der Kandidat der CDU 54,6 Prozent der Stimmen.

Düren ist eine Stadt an der A 4 zwischen Köln und Aachen. Bekannt in der Region vor allem durch die Annakirmes im Spätsommer. Die findet alljährlich auf der Festwiese neben einem Hundedressurplatz statt, und wenn des Mannes bester Freund jault und aus überdrehten Musikanlagen die Bässe über die Rur wehen, dann leben die Bluesrocker der Dürener Band „Schwees Fööss“ richtig auf. Sie tragen Jeanshemden, die sich über den Bauchansatz spannen, und ihre Rockballaden in rheinischer Mundart erzählen vom harten Alltag in der kleinen Stadt, die sie Heimat nennen. Die „Schwees Fööss“ sind in dem 90.000 Einwohner zählenden Mittelzentrum eine lokale Größe. Und wenn der Rummel in Düren wieder verebbt, dann besingen sie weiter ihre Stadt, die „net janz scheef, ävver och net jraad“ ist. Irgendwie eine Hauptstadt ist Düren dennoch, die Hauptstadt des rheinischen Braunkohlenreviers.

In den Tagebauen Bergheim, Hambach, Garzweiler und Inden werden knapp 120 Millionen Tonnen Braunkohle im Jahr gefördert. Die haushohen Braunkohlebagger bewegen Tag für Tag 240.000 Kubikmeter Erdreich. „Monster“ nennt die gigantischen Maschinen der Betreiber, die Rheinbraun AG, ein Tochterunternehmen des Energiemultis RWE. Die riesigen Abbaufelder sind von einem hohen Lärmschutzwall umgeben. Nur von den Aussichtsplattformen kann man das Geröllfeld aufgerissener Gesteinsschichten überblicken und so die Dimensionen der Landschaftszerstörung erahnen. Fern am Horizont raucht das Wärmekraftwerk, 90 Prozent der abgebauten Braunkohle dienen der Stromerzeugung. Der Rest wird pulverisiert und zu Briketts gepresst. Wie Spielzeugautos wirken von hier aus die schweren Tieflader, die sich auf dem Grund der 250 Meter tiefen Grube bewegen. Gesteinsbrocken, Sandschichten und ganze Dörfer werden abgegraben, um die Braunkohleflöze abzubauen.

Das Dorf Inden nördlich von Düren steht auf einem der größten Braunkohlevorkommen des Reviers. Obwohl Inden erst im Jahr 2001 unter die Schaufelräder kommen wird, hat die Evakuierung bereits vor 15 Jahren begonnen. Angesiedelt wurden die Dorfbewohner in Neu-Inden, einer planmäßig angelegten Ortschaft am Rande des Abbaugebiets mit gestutzten Hecken und rechtwinkligen Rasenflächen vor den Eigenheimen. In Inden aber gibt es keine Straßenschilder mehr, weil es dort bald keine Straßen mehr geben wird. Keine Telefonzellen mehr, weil hier niemand mehr telefonieren muss. Die Fenster und Türen der Häuser sind zugemauert. In den Vorgärten stehen hüfthoch die Brennnesseln. Die letzten Indianer, wie sich Bewohner Indens gerne nannten, sind Asylbewerber, die die Gemeindeverwaltung hier einquartiert hat, weil man sie in Neu-Inden nicht um sich haben möchte. Ein strittiges Thema, wie die Dürener Zeitung berichtet. In Zukunft wolle man die Asylbewerber anderweitig unterbringen, da es in den verlassenen Orten so gut wie keine Sozialkontrolle mehr gäbe und „derart auffällige Wohneinheiten zahlreiche Medienvertreter anlocken, die entsprechend düstere Beiträge produzierten“.

Die Neuansiedlung von ganzen Dorfgemeinschaften hat in Düren Tradition. Die Stadt selbst wurde zur Vorbereitung der amerikanischen Großoffensive am 16. November 1944 dem Erdboden gleichgemacht. Düren gehört mit einem Zerstörungsgrad von über 99 Prozent neben Dresden zu den am stärksten zerstörten Städten Deutschlands. Nach dem Zweiten Weltkrieg war die Militärverwaltung davon überzeugt, dass sich eine Enttrümmerung und ein Wiederaufbau der Stadt nicht lohnen würden. Doch es kam anders, denn „das Stadtzentrum ist mit Fördermitteln des Landes sehr schnell wieder aufgebaut worden“, wie Marlies Zimmermann-Lang, Leiterin des Stadtplanungsamtes, sagt. Der Wiederaufbau im Stil der 50er-Jahre prägt das Stadtbild noch heute. Helligkeit und Transparenz sollten die Schwere und Düsternis der Verwaltungsgebäude aus wilhelminischer Zeit ersetzen. Leichtigkeit und eine schnörkellose Linienführung bestimmten das Neue Bauen nach dem Krieg. In Pastelltönen geflieste Fassaden wechseln mit großzügig verglasten Treppenaufgängen ab. Und immer wieder die für diese Zeit typischen niedrigen Geländer an den Balkonfenstern.

Während in anderen Städten nur einzelne Kriegslücken mit Neubauten gefüllt wurden, erscheint die Innenstadt Dürens nahezu komplett im Baustil der 50er-Jahre. Diese Besonderheit möchte Marlies Zimmermann-Lang auch den Bürgern der Stadt vermitteln. Doch für die Stadtplanerin ist es „sehr schwer, die Bevölkerung, die Politiker und auch die Verwaltungsspitze davon zu überzeugen, dass diese Bauwerke Denkmalschutz verdienen“.

Das zwischen 1956 und 1959 erbaute Rathaus war eines der ersten Gebäude, das auf diesem Wege vor dem Umbau bewahrt wurde. Auf einem schmalen, rechteckigen Grundriss reckt sich der hohe Turm im Stadtkern geradlinig empor. Über einen geschwungenen Treppenaufgang gelangt man in das Zimmer des Bürgermeisters im ersten Stock. Der neue Bürgermeister ist noch nicht in das denkmalgeschützte Gebäude eingezogen, aber vielleicht wird er auch den Neubau als Sitz vorziehen. Der 1998 fertig gestellte Erweiterungsbau mit einem rechtwinkligen Raster ist durch eine verglaste Brücke mit dem alten Rathaus verbunden.

Der Fußgängertunnel, der am Bahnhof Süd- und Nordstadt verbindet, ist nicht verglast, sondern gefliest. Im kränklich-gelben Licht altersschwacher Neonröhren durcheilen Pendler aus Köln oder Aachen die Unterführung. Die Gleisanlagen zerteilen Düren in eine Nord- und eine Südstadt. Die Nordstadt ist der traditionell ärmere Stadtteil. Der Nordausgang des Bahnhofes mündet auf dem Zentralen Omnibusbahnhof. In militärischer Formation stehen verglaste Wartehäuser in drei Reihen hintereinander. Manchmal hält hier auch ein Bus. Der fährt meist leer weiter und füllt sich erst am nächsten Halt, am Rathausvorplatz, in der südlichen Innenstadt. Versteckt hinter der Glaswand aus Wartehäuschen steht auf einer tristen Grünfläche das Kulturzentrum Dürens, das Haus der Stadt. Theatersaal, Ausstellungsräume und die Stadtbibliothek sind in dem roten Klinkerbau untergebracht. Die Leiterin des Stadtplanungsamtes, Marlies Zimmermann-Lang, bezeichnet dieses Gebiet als „eine der größten Sünden im Stadtgebiet, die auf dem fußt, was ich an der Uni gelernt habe, nämlich der Flächensanierung. Alles Alte war ja schlecht und musste abgebrochen werden. Und alles Neue war ja gleich gut und teuer. Und das Ergebnis befriedigt niemanden. Am wenigsten die Nord-Dürener Bevölkerung, die wir aus dem Viertel, das wir dort abgebrochen haben, auch noch vertrieben und nicht mehr dort ansässig haben machen können. Im Prinzip ist das Haus der Stadt ein sozialpolitischer Akt als Geschenk an die Nord-Dürener Bevölkerung. Die anderen Gebäude, die dort stehen, beruhen auf überpragmatischen Entscheidungen.“ Die von der Stadtplanerin als überpragmatisch bezeichneten Gebäude hinter dem Haus der Stadt bestehen aus einer düsteren Ladenpassage, in der Lebensmittelmärkte mit Sonderangeboten und Discounter mit Restposten werben. Paare im Partnerlook zerbeulter Jogginghosen schieben übervolle Einkaufswagen zu ihren Autos, und aus Mülleimern quellen die Bierdosen. Das Haus der Stadt sollte den Sanierungszielen zufolge die Teilung Dürens in eine Nord- und Südstadt überwinden, doch die Kulturinsel bleibt durch Gleisanlagen und Brachland von der Innenstadt im Süden getrennt. In nördlicher Richtung grenzt an das Haus der Stadt ein Industrie- und Gewerbegebiet.

Doch trotz der Nähe zur Innenstadt geht die Vermarktung der Flächen nur schleppend voran. Nicht Arbeitsplätze schaffende Unternehmen wollen sich hier ansiedeln, sondern Billiganbieter. Ein Kino-Center, ausgestattet im aufdringlichen Pomp einer zweitklassigen Hotellobby, zeigt das übliche Programm aus Publikumserfolgen zwischen „Werner Volles Rooäää!!“ und „Die Braut, die sich nicht traut“. Ein Sonnenstudio und ein Lebensmittelmarkt am Hinterausgang des Kinos sind die einzigen neuen Mieter auf dieser Industriebrache.

Hier an der Rur ist ein frühes Kapitel Industriegeschichte in Deutschland geschrieben worden. Entlang der Ruraue entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts die ersten Papierindustrien Deutschlands. Traditionsunternehmen wie Schoeller oder Hoesch schufen zum Beginn der Industrialisierung hier den Grundstock für ihre späteren Dynastien. Viel ist davon nach dem Zweiten Weltkrieg nicht geblieben. Die weiterhin in Rurnähe ansässigen Papierfirmen wie Schoellershammer, Zanders-Reflex oder Kanzan gehören zu international agierenden Unternehmensgruppen. An die frühindustrielle Geschichte der Stadt Düren erinnern heute nur noch das Papiermuseum und das benachbarte Leopold-Hoesch-Museum. Das reich geschmückte Gründerzeitgebäude des Leopold-Hoesch-Museums ist eines der wenigen Bauwerke in Düren, die den Zweiten Weltkrieges nahezu unversehrt überstanden haben.

Alle zwei Jahre gelingt es Dorothea Eimert, der Direktorin des Museums, Spender und Sponsoren für die „Paper Art Biennale“ zu gewinnen. Das Forum für zeitgenössische Papierkunst wird im kommenden Jahr zum achten Mal Künstler mit internationalem Ruf präsentieren. Die Stadt Düren trägt nur ein Viertel der Gesamtkosten. Der Löwenanteil wird aus Spenden regionaler und überregionaler Unternehmen sowie aus Einnahmen des Museums bestritten. Gegen vielerlei Widerstände hatte der bisherige Bürgermeister Josef Vosen das „Haus der Stadt“ durchgesetzt. Das passte auch besser in das örtliche Verständnis einer Kultur für alle. Wenig interessierten ihn da die genauso zartgliedrigen wie vielschichtigen Werke eines Dimitrij Prigovs oder einer Marie-Jo Lafontaine, die zur letzten Paper Art Biennale einen von innen heraus leuchtenden, mit transparentem Papier überzogenen Körper präsentiert hat. Das fluoreszierende blaue Licht-Ei im ansonsten völlig dunklen Ausstellungsraum gefällt der Direktorin des Leopold-Hoesch-Museums ganz besonders, so als hätte sie eine persönliche Beziehung zu dieser Installation entwickelt. Dorothea Eimert wurde vor zwanzig Jahren zur Direktorin gewählt. Gefreut hat sie sich damals nicht. „Ich habe geheult, weil ich ,lebenslänglich‘ in Düren habe, und genauso ist es gekommen. Mittlerweile bin ich glücklich, hier eine Heimat gefunden zu haben.“