Das Leiden nimmt nie ein Ende

Zwei frühere Zwangsarbeiterinnen aus Wolgograd besuchten Berlin. Eine angemessene Wieder-gutmachung bekamen sie nicht, in Russland waren sie Außenseiter    ■ Von Philipp Gessler

Wer will diese Geschichten überhaupt noch hören? Die von bösen Deutschen, hungrigen Lagerinsassen und ausgebeuteten Arbeiterinnen? Wieso kann die schreckliche Vergangenheit nicht ruhen? Weshalb kann nicht endlich die Zukunft anbrechen?

Weil Nadjeschda Panitsch und Anna Kopylowa noch leben und von ihrem Leben erzählen müssen. Weil die beiden alten Damen aus Wolgograd als Zwangsarbeiterinnen in Nazideutschland für den Feind schuften mussten und nie eine angemessene Entschädigung bekommen haben. Und weil sie zu den wenigen noch lebenden Zeitzeugen gehören, die ihr Recht einklagen können.

Knapp zwei Wochen waren Nadjeschda Panitsch und Anna Kopylowa in Berlin, um die Reste der Stätten zu sehen, in denen sie jahrelang ausgebeutet wurden: einen Metallbetrieb bei Teltow, ein Kabelwerk in Neukölln. Eingeladen hatten sie die junge Hilfsorganisation „Deutsch-Russischer Austausch“ und die „Gossner Mission“, ein Missionswerk der Evangelischen Kirche.

Das Reiseziel: endlich die Menschen zu zeigen, um die es bei dem Gefeilsche um einen Entschädigungsfonds der Bundesregierung und der deutschen Industrie für die Zwangsarbeiter und Zwangsarbeiterinnen geht. Es ist ein Spiel um Milliarden – diese Woche könnte entscheidend sein. Erstmals sollen konkrete Zahlen auf den Tisch kommen.

In Deutschland rackerten mindestens sieben Millionen Zwangsarbeiter, in Fabriken, auf Bauernhöfen, auf öffentlichen Baustellen – nur noch etwa ein Viertel von ihnen lebt noch. Allein in Berlin waren 1943 über 380.000 Männer und Frauen, Väter, Mütter und sogar Kinder interniert. Die unterste Stufe der Ausgebeuteten, die aus allen besetzten Ländern Europas ins Reich verschleppt wurden, waren die sowjetischen „Ostarbeiter“ – zu erkennen am Abzeichen „OST“ an der Kleidung.

Sie wurden als „bolschewistische Untermenschen“ misshandelt, wie Vieh gehalten in Lagern. „Viele kamen nicht mehr nach Hause“, erzählt Nadjeschda Panitsch. „Sie wurden zu Tode gequält von der Gestapo, oder sie sind an Krankheiten und Hunger gestorben.“

Das internationale Lager in Teltow bei Berlin, in dem Nadjeschda Panitsch dahinvegetierte, war mit drei Reihen Stacheldraht gesichert. Der SS-Lagerchef malträtierte die Gefangenen mit seiner Peitsche. „Wir waren immer hungrig“, sagt Nadjeschda Panitsch, „viele kippten vor Schwäche an ihren Arbeitsplätzen um. Selbst im Winter mussten wir Pantoffeln tragen.“

Das Leiden der Ostarbeiter war nach dem Krieg nicht zu Ende. Der Vater von Anna Kobylowa etwa, der als Kriegsgefangener im Lager war, wurde in den letzten Kriegswochen von den Sowjettruppen befreit und in den Endkampf um Berlin geschickt. Nach Kriegsende wurde er wie ein Volksverräter behandelt. Nach Stalins Logik war jeder, der lebendig in Feindeshand geriet, ein Kollaborateur.

Die meisten Zwangsarbeiter verschwiegen deshalb ihre Haft. Anna Kobylowa erzählte ihrem Mann, mit dem sie inzwischen 50 Jahre verheiratet ist, erst 1993 von ihrer Gefangenschaft in Deutschland. Die Diskriminierung der Ostarbeiter führte auch dazu, dass die früheren Inhaftierten keine gute Arbeit bekamen, nicht studieren durften. Viele von ihnen haben deshalb eine katastrophal niedrige Rente.

Die Zeit für eine Entschädigungslösung drängt, die Reihen der früheren Ostarbeiter lichten sich immer schneller. „Bald wird niemand mehr übrig bleiben, dem man noch Kompensation geben könnte“, warnt Anna Kobylowa. Nadjeschda Panitsch bekam bisher als teilweise behinderte ehemalige Zwangsarbeiterin eine Einmalzahlung von 870 Mark – damals noch nicht erwachsene Ostarbeiterinnen wie Anna Kobylowa erhielten einmalig etwa 1.300 Mark. Das war's.

Beide erinnern sich daran, dass Bundeskanzler Gerhard Schröder bei seinem Besuch in Wolgograd im Februar dieses Jahres ankündigte, die früheren Ostarbeiter könnten mit Entschädigungen von mindestens 12.000 Mark rechnen. Doch bisher haben nur die ehemaligen VW-Zwangsarbeiter eine ähnlich hohe Summe bekommen.

Für die etwa 800.000 noch lebenden Fabrik-Zwangsarbeiter hat die deutsche Industrie bisher lediglich rund drei Milliarden Mark angeboten. Nadjeschda Panitsch und Anna Kobylowa haben jeweils drei Jahre in Deutschland gearbeitet. Wer mag, kann ausrechnen, was für ein Tageslohn dabei herauskommt.