■ In Europa galt bislang: Die Integration der ethnischen Minderheiten erfolgte in den Großstädten. In Deutschland wuchsen jedoch nach dem Fall der Mauer die sozialen Probleme stärker als je zuvor. Zugleich sanken die finanziellen Möglichkeiten, diese Probleme zu bekämpfen. Das Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung legt nun eine erste Untersuchung über das Ausmaß der ethnisierten Konflikte in Städten vor. Eine alarmierende Bestandsaufnahme  Von Eberhard Seidel
: Stadt ohne Zukunft?

Gute Bildungschancen und das Gefühl, politisch repäsentiert zu sein, macht die Münsteraner toleranter. Aber eine Moschee in der Stadt wollen sie dennoch nicht.

Wann werden frustrierte Jungtürken, kampfeslustige Teutonen und haltlose Russlanddeutsche übereinander herfallen? Es sind nicht nur die deutsch-nationalen Mahner der Jungen Freiheit, die seit Jahren ein böses Erwachen prophezeien und deshalb eine restriktive Zuwanderungspolitik und eine Deutsche-zuerst-Politik einklagen. Wie viel Fremdheit verträgt unser Land? Wie gefährlich ist sie? Diese Fragen beschäftigen auch die bürgerliche Öffentlichkeit. Und längst hat der linksalternative Mittelstand die Flucht vor den Problemen der innerstädtischen Gebiete ergriffen und sucht Schutz in den „besseren“ Quartieren.

Die Aufregung ist berechtigt. Vor allem sollte sie nicht leichtfertig vom Tisch gewischt werden. Denn die sozialen und demographischen Veränderungen der letzten zehn Jahre sind so tiefgreifend wie selten zuvor in einem vergleichbaren Zeitraum seit Gründung der Bundesrepublik. Nie kamen so viele Spätaussiedler, nie so viele Asylbewerber in so kurzer Zeit, und nie war der Druck von Armutsmigranten auf bundesdeutsche Städte so groß wie seit dem Verschwinden des Eisernen Vorhangs. Zwischen 1991 und 1998 kamen rund zwei Millionen Spätaussiedler und 1,8 Millionen Asylbewerber nach Deutschland. Die ausländische Wohnbevölkerung betrug 1980 4,5 Millionen, 1990 5,3 Millionen und 1998 7,3 Millionen – trotz erhöhter Einbürgerungen.

Keine rosigenAussichten, weil den Regierenden zugleich selten so wenig Verteilungsspielräume zur Verfügung standen, sie so viele Arbeitslose besänftigen mussten. Bereits 1993/94 alarmierten Bürgermeister bundesdeutscher Großstädte die Öffentlichkeit: „Wir sind am Ende“, lautete die Botschaft. „Überfordert mit all den Neuankömmlingen und sozialen Problemen.“ Seitdem geht es um nichts weniger als die Frage, ob die Stadt, die bislang in Europa als Integrationsmaschine fungierte, diese Aufgabe auch in Zukunft noch wahrnehmen kann.

Wer in diesem allgemeinen Durcheinander handfeste Ergebnisse liefert, dem ist Kritik gewiss. Als der Bielefelder Wissenschaftler Wilhelm Heitmeyer 1996 in einer Studie quantifizierte, wie verlockend islamistische und nationalistische Gruppen für viele türkische Jugendliche sind, hagelte es Prügel. Weder Kollegen noch Politiker oder auch die Türkische Gemeinde wollte sehen, dass durch diese Gruppen die Jugendlichen ihrer sozialen Desintegration zu entkommen versuchen.Niemand wollte wahrnehmen, wie weit die Entwicklung ethnisch definierter Parallelgesellschaften hierzulande inzwischen gediehen ist.

Nun hat Heitmeyer mit seinen Mitarbeitern vom Bielefelder Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung eine neue Studie erstellt. Drei Jahre lang gingen sie in einer groß angelegten Untersuchung im prosperierenden Münster, im stagnierenden Wuppertal und im krisenhaften Duisburg der Frage nach: Unter welchen Voraussetzungen werden soziale Probleme ethnisiert. Zugleich ging es aber auch darum, Ansätze der politischen Intervention aufzuzeigen.

Insgesamt 1.706 deutsche und türkische Staatsbürger wurden in den drei Städten befragt. Heraus kamen Ergebnisse, die keine schnellen Schlussfolgerungen zulassen. Eine klare Absage erteilen die Forscher einer zwar beliebten, aber wohl doch zu einfachen Erklärung: Konzentration von Ausländern und Konzentration von Arbeitslosen bedeutet zugleich ein hohes soziales und ethnisches Konfliktpotential. Ebenso wenig stimmt das Vorurteil, dass Schulen mit einem hohen Ausländeranteil auch die mit den größten ethnischen Spannungen sind,so das Ergebnis der Befragung unter 7.000 Schülern in den drei Städten.

Die Bereitschaft, den jeweils anderen für soziale Probleme verantwortlich zu machen, steigt erst dann weit über den Durchschnitt, wenn verschiedene Faktoren zusammentreffen. Am höchsten ist die Anfälligkeit für Ethnisierungen bei Menschen, die einerseits Schwierigkeiten auf dem Arbeitsmarkt haben und andererseits mit dem Gefühl leben, dass politische Partizipation nicht möglich, sinnlos und folgenlos ist.

Am wenigsten dieser doppelt gebeutelten Menschen leben in der Dienstleistungsstadt Münster. Gute Bildungschancen und das Gefühl, politisch repräsentiert zu sein, macht die Münsteraner zunächst toleranter. Sie üben wenig Assimilationsdruck auf die Minderheiten aus, und viele hätten auch mit einer Reform des Staatsbürgerschaftsrechts plus doppelter Staatsbürgerschaft keine Schwierigkeiten gehabt.

Ganz anders sieht es jedoch in den sozialen Brennpunkten Duisburgs aus. Im Duisburger Stadtteil Marxloh zum Beispiel betrug die Wahlbeteiligung bei den letzten Kommunalwahlen unter der Hälfte der Bewohnerschaft, die überhaupt wählen durfte, gerade mal dreißig Prozent. Von der Politik erwarten sich die Menschen immer weniger. Umso mehr sind sie allerdings bereit, die Ausländer für ihre Probleme verantwortlich zu machen. Die Folge: Die Assimilationserwartungen an die türkische Minderheit sind überdurchschnittlich hoch. Ebenso die Ablehnung der Reform der Staatsbürgerschaft. Nicht in Münster, sondern in Duisburg sind die Grünen mit ihrem Projekt der doppelten Staatsbürgerschaft gescheitert.

Die Ergebnisse der neuen Heitmeyer-Studie, die in ihrer Gesamtheit im Frühjahr 2000 der Öffentlichkeit vorgestellt wird, dürften für Aufregung sorgen. Denn die Schlussfolgerungen für Politik und Gesellschaft sind brisant: Eine kulturell differenzierte und multiethnische Stadt kann ihrem hohen Konfliktpotential nur dann Herr werden, wenn eine nationale Integrationspolitik für die Minderheiten mit einer sozialen Integrationspolitik für alle in hoch belasteten Quartieren lebenden Menschen gekoppelt wird. Im Einzelnen bedeutet dies die Verbesserung des rechtlichen Status der Migranten, die Verbesserung der Möglichkeiten der politischen Partizipation und die Umkehrung der sozialen Desintegration der letzten Jahre für alle.

Allzu optimistisch, dass die Politik reagieren wird, ist man in Bielefeld allerdings nicht. So beklagt Heitmeyer eine verheernde Entsolidarisierung der städtischen Eliten mit den Problemvierteln, die viele offensichtlich schon aufgegeben hätten. Die Parteien, so die Beobachtung, halten ein Engagement in Stadtteilen, in denen ein Großteil der Bewohner nicht einmal wahlberechtigt ist, zunehmend für sinnlos. Und ein Teil der gesellschaftlichen Eliten sieht die Desintegration als unvermeidliche, wenn nicht sogar wünschenswerte Begleiterscheinung einer neoliberalen Wirtschaftspolitik.

Das Fazit also lautet: Das Konfliktpotential ist groß, das politische Instrumentarium der Gegensteuerung gering. Den gebildeten Stadtbewohnern mit einer „guten Adresse“ bescheinigt Heitmeyer zwar ein größeres Maß an Toleranz. Einbilden sollten sich die bürgerlichen Kreise darauf aber nichts. Denn wenn das Fremde in den gutbürgerlichen Vierteln sichtbar wird, zum Beispiel durch den Bau einer Moschee, dann sinkt auch dort der Toleranzpegel auf das Niveau von Marxloh.