Endspiel der Kritik

■ Konterrevolution und Revolte: Reemtsmas Adorno-Collage im Schauspielhaus

Fragmente einer Beethoven-Klaviersonate: d-g-g; ein Motiv des Abschieds, ein „Le-be-wohl“, eingeleitet durch die Halbtonschritte c-cis – und dieses cis sei für einen Moment Menschlichkeit. So kommentiert Serenus Zeitblom (Michael Wittenborn) einen Vorlesungsbesuch bei Hermann Kretzschmar. Dies ist die Rahmung, Anfang und Ende, der szenischen Lesung Jan Philipp Reemtsmas. Ausschnitte aus Becketts „Endspiel", Dialoge zwischen Hamm (Jean-Pierre Cornu) und Clov (ebenfalls Wittenborn) bilden das dramatische Zentrum und sind zugleich metaphorisch-allegorische Verlängerung einer Textcollage aus dem Briefwechsel zwischen Herbert Marcuse (Stephan Bissmeier) und Theodor W. Adorno (Josef Ostendorf).

Die Briefe von 1969 wurden erst kürzlich von Wolfgang Kraushaar veröffentlicht. Damals, vor dreißig Jahren, besetzten Studierende das Institut für Sozialforschung. Der Adorno-Schüler Hans-Jürgen Krahl (Michael Weber) forderte praktisches Engagement der Frankfurter Schule, doch Adorno, der Habermas' Befund vom „Linksfaschismus“ mehr als teilte, ließ das besetzte Institut von der Polizei räumen. Wenig später, am 5. August 1969, starb Adorno.

Reemtsma inszeniert nun jene sich in der Korrespondenz ergebende Auseinandersetzung zwischen Adorno und Marcuse, der nicht nur mit der Besetzungsaktion der Studierenden sich solidarisch erklärte und in Adornos Polizeihilferuf einen Fehler sah, sondern der grundsätzlich die Forderungen der Außerparlamentarischen Opposition teilte: „Wenn die Alternative ist: Polizei oder Studenten der Linken, bin ich mit den Studenten.“ Der zunächst private Briefwechsel, der ein persönliches Treffen zwischen Marcuse und Adorno verhandelte, gerät zunehmend zu einer fundamentalen Auseinandersetzung über die Aufgabe der Sozialphilosophie. Aber Reemtsma, der zusammen mit Stefanie Carp die Texte in die szenische Fassung brachte, belässt diese Kontroverse im Privaten; indem der His-toriker und politische Publizist Reemtsma mit der Frage des Endspiels kritischer Theorie sich für die Bühnenfassung entscheidet – und nicht etwa für eine Fortsetzung der Kontroverse im Rahmen einer öffentlichen Diskussionsveranstaltung –, setzt er sich gar dem Verdacht aus, die Problematik im Schauspiel zu verharmlosen. Das Endspiel wird zu Adornos Endspiel, zum Schluss tritt erneut Zeitblom auf, die Figur aus dem „Doktor Faustus“ von Thomas Mann, den Adorno einst in musikalischen Fragen beriet.

Als Bühnenspiel ist die szenische Lesung gelungen, Sprachgestus, Bühnenbild und Kostüme verraten etwas von Authentizität. Allein, die Intention bleibt unaufgeklärt, das Problem der Theorie-Praxis-Vermittlung ausgespart: Dass Marcuse bereits 1966 am Vietnamkongress als Hauptreferent teilnahm und folglich eine Praxisorientierung seinerseits nicht erst gefordert werden musste, sondern ihm unabdingbare Verpflichtung war, bleibt bei der Inszenierung ebenso außen vor, wie Marcuses über Adornos Tod hinausgehendes Engagement. Dem Publikum schien es so Recht zu sein; in jedem Lacher offenbarte sich etwas von der Peinlichkeit, den eigenen 68er-Mythos mit kultureller Erbauung zu verhübschen.

Gerade weil Reemtsmas Inszenierung so wenig Aktualität transparent macht, mag sie aktuellen Gründen dienen: Immerhin vertritt er das Hamburger Institut für Sozialforschung, welches eine Nachfolge des Frankfurter beansprucht. Nur rief man hier ja nicht die lokale Polizei, sondern reihte sich jüngst ein in die Kriegsfront, die weltpolizeilich begründet wurde. Dies hat zu bedenken, wer diesen „Versuch, ein Endspiel zu verstehen“, verstehen will. Roger Behrens

7. , 13. , 21. Okt., 3. Nov., 21 Uhr, Schauspielhaus-Kantine