Menschenrechtler im tiefen Sternenraum

■ Der Komponist Erwin Koch-Raphael feiert seinen 50sten Geburtstag. Zu seinen Ehren gibt es ein Festkonzert bei Radio Bremen – und zuvor ein Gespräch mit der taz

Am 11. Oktober wird ein rühriger Bremer 50 Jahre alt: der Komponist Erwin Koch-Raphael. Obschon er in seinem musikalischen Elternhaus bereits viel Musik machte, studierte er zunächst Elektrotechnik, dann absolvierte er an der Hochschule der Künste in Berlin ein Tonmeisterstudium. In der Zeit begann er auch ein reguläres Kompositionsstudium bei dem koreanischen Komponisten Isang Yun. Seit 1982 als Dozent, seit 1996 als Professor unterrichtet er Komposition, Musiktheorie und experimentelles Musiktheater an der Universität Bremen. Neben den Aufführungen seiner Kompositionen wurde Koch-Raphael durch seinen pädagogischen Einsatz bekannt – das erfolgreiche „Response“-Projekt von Kammerphilharmonie und Bremer Schulen gründet sich hauptsächlich auf seiner Initiative. Über seinen Lebensweg und seine künstlerischen Ideen sprach er mit der taz.

taz: Was hat Sie als Jugendlicher ausgerechnet zum Komponieren gedrängt?

Erwin Koch-Raphael: Schon als Kind habe ich am Klavier und später dann an der Kirchenorgel stundenlang improvisiert. Dabei hatte ich die innere Erfahrung eines tiefen Sternenraums, der mit zahllosen farbigen Lichtern gefüllt war, und die schwarzen und weißen Tasten waren wie Leitern in diese Welt. Diesen Raum wollte ich in unseren normalen Umraum herüberholen: Ich begann, meine Musik aufzuschreiben.

Ihre Neugier gegenüber allem Neuen und Ihre Aufnahmebereitschaft von Texten, naturwissenschaftlichen Phänomenen, Philosophien scheinen grenzenlos. Können Sie vielleicht beschreiben, wie es dann zu einem kreativen Prozess und der Niederschrift einer Komposition kommt?

Ein neues Vorhaben – zum Beispiel ein Stück für Cello oder für ein kleines Orchester – ist der Ansatz, der Hintergrund. Und dann kommt das Erlebte und Gelesene: Das formt meint Denken. Die ästhetische Struktur bildet sich dann aus beidem. Für meine Impulse stehen die Menschenrechte vorne an. Ich arbeite gerne mit Texten – in den Titeln, aber auch in den Kommentaren. Ich versuche die Welt zu zeigen, die Welt, die ich in den Strukturen meiner Musik repräsentieren kann.

Da Sie ja so viel Außermusikalisches einbringen: Wie ist denn Ihre Arbeitsstruktur?

Ich stehe um viertel nach fünf auf, frühstücke, lese Zeitung – die taz und die Frankfurter Rundschau –, mache Waldlauf. Ich sitze dann von neun bis ein Uhr beim Komponieren. Meine Vorbereitungen für die Uni erledige ich nach einem kurzen Mittagsschlaf nachmittags und abends.

Walter Benjamin, auf den Sie sich in der „composition No. 53“ sehr stark beziehen, hat einmal gesagt: „Ich habe nichts zu sagen, nur zu zeigen“. Geht es Ihnen ähnlich?

Ja, so verstehe ich es. Ich stelle musikalische Charaktere zusammen, ich „setze“, eben „componere“: Es gibt in meiner Musik kein „Entwicklungsdenken“ in klassischem Sinne.

Es gibt bei Ihnen häufig den Rekurs auf historische Gattungen. Ist das rein organisatorisch gemeint? Oder gibt es da auch eine inhaltliche oder semantische Ebene?

Ich arbeite mit meinen Assoziationen dieser Formen. Die Spannung entsteht aus den objektiven Vorgaben der Musikgeschichte und meiner Wahrnehmung dieser Geschichte.

Mich erinnert das sehr an Igor Strawinski. Sehen Sie sich in einer vergleichbaren ästhetischen Verfahrensweise?

So eine Frage hat mir noch niemand gestellt. Aber es ist richtig. „Pulcinella“ war einmal mein Lieblingsstück. Strawinski inspiriert mich viel mehr als Schönberg – der ist so unglaublich frisch. Die Zeit wird bei ihm vielfältig gebrochen, das genieße ich sehr.

Sie haben einmal gesagt, dass Sie den Kunstbegriff über den Musikbegriff stellen. Was heißt das?

Mich fasziniert, wie die Maler über Kunst reden. Es kommen so viele Ideen von Lebensgefühl, von Ordnungen. Dabei sprechen sie nicht in fachlichen oder traditionellen Begriffe, sondern alles ist ganz persönlich. Die Komponisten reden viel fachlicher, handwerklicher. Sie sind weniger visionär, weniger utopisch, oft einfach langweiliger.

Mit Kunst verbindet sich grundsätzlich ein kritischer Ansatz: Den Anspruch von individueller Freiheit in der Masse zu behaupten. Nach dem historischen Funktionsverlust der Kunst hat sie heute eine andere Funktion, eine gesellschaftliche Funktion des kritischen Denkens. Dieser Funktionswandel wird in der augenblicklichen Kulturszene sowohl in der Lehre als auch in der Öffentlichkeit leider kaum vermittelt und ist somit nicht klar. Aber es ist einer.

Fragen: Ute Schalz-Laurenze

Sonnabend, 9. Oktober, um 20 Uhr im Sendesaal von Radio Bremen: Konzert für Erwin Koch-Raphael, InterpretInnen: musica viva Hannover