Ein Gouverneur für Tschetschenien

Moskau will die Kaukasusrepublik einer Zwangsverwaltung unterstellen und den Rebellen im Süden den endgültigen Garaus machen  ■   Aus Moskau Barbara Kerneck

Vorausgesetzt, die Russische Föderation vermag Tschetschenien, oder wenigstens einen Teil davon, auf Dauer zu besetzen, was soll mit dem eroberten Territorium geschehen? Diese Frage stellten am Dienstag eine Hand voll geladener russischer Politiker, darunter fünf Ex-Premiers, Ministerpräsident Wladimir Putin. Der umschrieb sein Ziel so: „Die Herde des Terrorismus liquidieren und dann das aufrührerische Territorium auf den Boden der Verfassung zurückholen.“

Die sensationellste Neuerung, die der Premier im eroberten Gebiet einzuführen gedenkt, kann aber auf dem Boden der russischen Verfassung nicht gesprossen sein: es ist die Figur eines „Generalgouverneurs von Tschetschenien“. Die Zeugen des Treffens nannten keinen Namen, gaben aber zu verstehen, dass dies auf jeden Fall ein „Mann in Uniform“ sein werde, den man mit zunächst weitreichenden Vollmachten auszustatten gedenke.

Bei demselben Treffen erklärte Putin die erste Etappe der sogenannten Spezialoperation für abgeschlossen. Am Montag und Dienstag hatten die föderalen Truppen im Norden des Landes die sonst schmale Sicherheitszone entlang der Grenzen zu Russland aufgeblasen. Sie sieht auf der Karte aus wie eine Riesenschlange, die einen Elefanten verschluckt hat. Sie umfasst jetzt ein Drittel des Landes und endet am Fluss Terek. Hier schaffen die Föderalen dauerhafte Befestigungen.

Von diesem Wall aus soll nun Rest-Tschetschenien weiterhin unaufhörlich aus der Luft bombardiert werden. Gleichzeitig haben die föderalen Truppen in Nord-Tschetschenien bereits mit dem Versuch begonnen, dort so etwas wie ein Schaufenster des postsowjetischen Russland aufzubauen. Man will es so anziehend gestalten, dass sich kein halbwegs normaler Tschetschene diesem Eindruck auf Dauer zu entziehen vermag.

Hier werden schon in nächster Zeit die Renten wieder ausgezahlt, die die alten Leute jahrelang nicht mehr zu sehen bekommen haben. Als nächstes sollen die Schulen wiedereröffnet und mit realem Geld bezahlte Arbeitsplätze geschaffen werden. An die Stelle der Scharia sollen zivile Gerichte treten. In dieser Region will man auch einen Großteil der jetzt in Inguschetien gestrandeten etwa 110.000 Flüchtlinge ansiedeln, hätscheln und päppeln. Zu welchem Zweck, ist nicht schwer zu erraten: als Akklamationsbasis für den Generalgouverneur.

Anstatt die eroberten nordtschetschenischen Dörfer, wie bisher üblich, marodierend und vergewaltigend zu verwüsten, betreten die föderalen Soldaten sie nicht einmal. Sie schlagen ihre Lager nebenan auf und verpflichten die einheimische Bevölkerung lediglich, sogenannte „Rettungsgruppen“ zu bilden. Diese sollen ihre Besatzer vor den islamistischen Freischärlern schützen.

Die hoch bewaffneten Bandenformationen der Brüder Bassajew und Hattabs spielen in dieser ganzen Rechnung die Rolle des Wirtes: ohne ihn ist sie schwer zu machen, mit ihm noch viel schwerer. Seit der föderalen Invasion in ihr Land gebärden sie sich weitgehend als Zuschauer. Dass sie sich aber hier im Laufe des Winters in einen Haufen tiefgekühlter Ötzis verwandeln oder ausräuchern lassen, ist wenig wahrscheinlich.

Die von den Freischärlern nach dem Überfall auf Dagestan zurückgelassenen Toten deuten darauf hin, dass Bassajew dort mit relativ unerfahrenen Freiwilligen und Söldnern angriff und den bewährten Kern seiner Truppe zu Hause schonte. Was das Waffenarsenal der Banditen betrifft, so meinen Militärexperten, es reiche für drei Kriege.

Außerdem hat die neue „Sicherheitszone“ nicht ganz Tschetschenien von der Außenwelt isoliert. Die Bergwelt im Süden lässt sich weder gegenüber Georgien noch Aserbeidschan abriegeln. Von hier aus können neue Söldner aus dem nahen Osten in das Land eindringen und mit Terroranschlägen beauftragte Diversionstruppen in Richtung Russlands Städte entweichen.

Bei dem Treffen mit den Ex-Premiers gab Putin zu verstehen, dass das von ihm vor wenigen Tagen als „einzige legitime Staatsmacht in Tschetschenien“ bezeichnete Parlament von 1993 für ihn kein ernst zu nehmender Verhandlungspartner sei. Aber auch der unter OSZE-Aufsicht gewählte Präsident, Aslan Maskhadow, kommt für Putin nicht in Frage.

Moskau schwächt damit die einzige Kraft in Tschetschenien, die noch an einer friedlichen Regelung des Konflikts interessiert ist und stärkt die Position der Banditen.

Gestern erklärte Wladimir Putin bei einer Sitzung der Kommission für Kriegsindustrie, er werde die Staatsaufträge für die Waffenproduktion um das Anderthalbfache erhöhen. Offensichtlich richtet er sich auf einen langen Krieg ein.

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