Die Wahl bleibt für Migranten ein Fremdwort

Bei den beiden größten Bevölkerungsgruppen nicht deutscher Herkunft, den Türken und Polen, herrscht – selbst wenn sie wählen dürfen – Desinteresse und Unkenntnis über die Wahl am Sonntag. Die Grünen haben die meisten nicht deutschen Kandidaten auf ihren Listen    ■ Von Julia Naumann

Im Kreuzberger Straßenbild wirkt es schon fast selbstverständlich: Özcan Mutlu, Kandidat der Bündnisgrünen auf Platz sechs der Landesliste, wirbt auf seinen Wahlplakaten in türkischer und deutscher Sprache. „Ich bin's, Mutlu“, heißt es dort mit einem fröhlichen Grinsen. Die SPD macht es ähnlich: Die Kreuzberger Sozialstadträtin Ingeborg Junge-Reyer verspricht auf ihren Plakaten „Brücken zu bauen“. Auf Türkisch und Deutsch.

Doch von Selbstverständlichkeit keine Spur: Die Wahlen am Sonntag bleiben für die meisten MigrantInnen ein Buch mit sieben Siegeln. Von den 170.000 Berlinern türkischer und kurdischer Herkunft sind bisher nur 40.000 eingebürgert. Etwa 27.000 dürfen wählen, weil sie volljährig sind. Doch an eine hohe Beteiligung glaubt Kenan Kolat vom Türkischen Bund Berlin-Brandenburg (TBB) nicht. „Das Interesse wird noch geringer als bei der Bundestagswahl sein“, schätzt der TBB-Geschäftsführer. Es habe bei der größten türkischen Organisation in den vergangenen Wochen kaum Nachfragen zur Wahl gegeben. Ein ähnliches Stimmungsbild ergibt sich bei der zweitgrößten Bevölkerungsgruppe nicht deutscher Herkunft, den PolInnen. Von 100.000 Berliner PolInnen dürfen etwa 70.000 wählen. Lidia Kozlowska vom Polnischen Sozialrat glaubt jedoch, dass die meisten nicht zur Wahlurne gehen. „Da ist ein allgemeines Desinteresse.“

Zum zweiten Mal dürfen sich auch die rund 60.000 in Berlin lebenden EU-Bürger an den Wahlen der Bezirksparlamente beteiligen. 1995 lag die Wahlbeteiligung unter ihnen nur bei 23 Prozent.

Die türkischen WählerInnen seien von der rot-grünen Koalition im Bund enttäuscht, musste SPD-Mitglied Kolat erfahren. Grund sei unter anderem das neue Staatsbürgerschaftsrecht, das die Einbürgerung teilweise verschärfe.

Ein bisschen anders sieht das natürlich der 32-jährige Mutlu, der seit Wochen insbesondere durch Kreuzberg tingelt. Er glaubt, dass die Wahlbeteiligung der Deutschtürken „definitiv“ höher sein werde als sonst, da er sehr viel Zuspruch erfahren und Aufklärung geleistet habe. „Die, die wählen können, werden dass tun, weil sie endlich partizipieren können“, sagt Mutlu. Doch viele Türken seien überhaupt nicht aufgeklärt, wie die Wahl funktioniere. „Viele halten die Wahlberechtigungscheine für Werbung und schmeißen sie weg.“

Ali Yumusak, Redakteur bei der konservativen türkischen TageszeitungHürriyet, glaubt jedoch, dass die Türken nicht bestimmte Personen wählen, sondern Parteien. „Sonst hätte ein Einzelbewerber wie Cemalettin Çetin im Wedding viel mehr Erfolg“, sagt er. In den vergangenen Jahren hätten die Türken bevorzugt „SPD und Linksparteien“ gewählt. Doch die Enttäuschung über das neue Staatsbürgerschaftsrecht sei groß. „Das heißt jedoch nicht, dass sie automatisch CDU wählen“, drückt sich Yumusak vorsichtig aus.

Zumindest bei der CDU gibt es für die Wahl am Sonntag wenig Identifikationsfiguren. Die Union schickt keinen einzigen Kandidaten nicht deutscher Herkunft ins Abgeordnetenhaus. Auch in den Bezirken sieht es mau aus. Es gebe drei bis vier Kandidaten, heißt es in der CDU-Pressestelle, doch die seien auf hinteren Plätzen und hätten mit einer Ausnahme in Spandau wenig Chancen.

Bei der SPD kandidieren immerhin sechs Menschen nicht deutscher Herkunft für Bezirksverordnetenversammlungen (BVV) und zwei für das Abgeordnetenhaus, eine aus Vietnam und eine aus der Türkei – Dilek Kolat, Ehefrau des TBB-Geschäftsführers. Die 32-Jährige steht auf Platz 3 der Schöneberger Bezirksliste. Der Bezirk wird jedoch wahrscheinlich nur mit zwei Abgeordneten im Landtag vertreten sein. Kolat könnte nachrücken, da Finanzsenatorin Annette Fugmann-Heesing auf Listenplatz 1 rangiert. Wird diese wieder Senatorin, ist der Weg für Kolat frei.

Die meisten KandidatInnen nicht deutscher Herkunft schicken die Grünen ins Rennen. Für das Abgeordnetenhaus kandiert neben Mutlu auch die 47-jährige Jasenka Villbrandt, eine gebürtige Jugoslawin. Die Schöneberger Direktkandidatin hat aber den eher aussichtslosen Listenplatz 21. Die beiden Newcomer lösen den Kurden Riza Baran ab, der nicht mehr kandidiert, ebenso wie Ismail Kosan, der nicht mehr aufgestellt wurde. Rund 17 weitere Eingebürgerte und EU-Bürger, darunter ein Österreicher, kandidieren für die Grünen in den Bezirken.

Für die PDS wird der Kurde Giyassettin Sayan wieder in das Abgeordnetenhaus einziehen, außerdem kandidiert die Kurdin Evrin Baba in Neukölln für die PDS. In die BVVs sollen acht Kandidaten nicht deutscher Herkunft für die PDS einziehen.