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: Das Silvester-2000-Toten-Bingo

■ Man steht im Bombenhagel, um 3 Uhr morgens, betrunken und zu dünn angezogen. Alle anderen haben ein Haus in Ostfriesland

So entstehen wahrscheinlich Gerüchte: Irgend jemand hat erzählt, dass an Silvester 2000 mit einem schrecklichen Champagner-Notstand zu rechnen sei und dass man darum klug daran täte, rechtzeitig einen Vorrat anzulegen. Ist ja auch gar nicht mal so unlogisch, der Gedanke. Ich habe jedenfalls letzte Woche bei Lidl, dem grässlichen FDP-farbenen Bayern-Billig-Laden, drei Flaschen gekauft, 19 Mark 98 pro Flasche, und der schmeckt besser als die Marken von Aldi und Plus. Auf dem Weg nach Hause konnte ich gleich vier Bekannten das Gerücht vom bevorstehenden Champagner-Notstand unterschieben. Sie haben versprochen, demnächst Vorräte anzulegen.

Abgesehen davon, dass meine Flaschen ja ohnehin die Zeit bis Silvester nicht überstehen werden, ist das Thema in diesem Jahr noch unerfreulicher als sonst immer. Klar wäre Wegfahren am Schönsten, aber wohin und wie? Bekanntlich fallen die Flugzeuge um den 1. 1. herum alle vom Himmel, und wahrscheinlich gehen auch alle Kreuzfahrtschiffe unter, ganz zu schweigen von den Preisen für einen so luxuriösen Tod. Die Frage „Was machst du eigentlich?“ ist schon schlimm, aber noch schlimmer ist es, wenn man an jemanden gerät, der sich quasi seit Jahren darauf vorbereitet hat und schlicht antwortet: „Wir haben da dieses Haus in ... (Schweden/Italien/Florida/Ostfriesland) gemietet und fahren mit ein paar netten Leuten eine Woche (oder zwei) dorthin“, etc. etc. Furchtbar. Neid.

Wie gut die's haben: mit netten Leuten in einem kuscheligen Haus, schummeriges Licht, kehliges Lachen, windige Augenaufschläge, klingende, langstielige Gläser, um 0 Uhr umarmen sich alle und haben sich besonders gern. Oder die, die auf eine richtige Party gehen, mit Oscar-Verleihungs-Kleidern und Buffett und dann noch prima Musik, und alle Männer sehen aus wie Aidan Quinn.

Natürlich war ich auch schon auf jeder Menge amüsanter Silvesterparties, obwohl ich vorher immer sage, dass ich keine Lust habe, um aber dann doch um 23 Uhr ins Bett zu gehen oder alleine eine Flasche Champagner zu kippen. Als Teenie war ich einmal am Silvesterabend zu Hause. Ich kann mich genau erinnern, wir (also meine Eltern) hatten Besuch, „Bekannte“ sagte man damals dazu (natürlich verheiratete Pärchen, „Wulfs“, „Schneiders“ etc. etc.). Ich war bis 3 Uhr wach, und da kam „Shampoo“ im Fernsehen, von 1975, mit Warren Beatty als sexgeilem Friseur. Ich wette, wenn Warren Beatty jetzt als Präsident kandidiert, zeigen sie nicht mehr „Shampoo“ an Silvester. Wäre eventuell kontraproduktiv. Höchstens „Reds“. Aber zurück zu den Parties. Zuerst behaupten immer alle, sich nichts aus Silvester zu machen – ich kenne wirklich niemanden über 25, der zugibt, Lust auf Silvesterparties zu haben –, aber dann steht man doch immer gegen 3 Uhr betrunken und zu dünn angezogen auf irgendwelchen Straßen im Böller- und Bombenhagel und kriegt kein Taxi. Fahrrad konnte man wegen des Mistwetters nicht fahren, und überhaupt, Scheiß-Touristen.

Wenn ich wüsste, wie man eine Webpage einrichtet (ja, ja, es gibt genug Leute, die das können, aber das hier ist ein rhetorischer Vorschlag), dann würde ich ein großes „Silvester-2000-Toten-Bingo“ im Internet anbieten. Jeder könnte seine Prognose abgeben, wie viele Menschen in Berlin, Deutschland, Europa, der Welt in dieser Nacht ihr Leben lassen werden auf Grund irgendwelcher partytechnischer Umstände. Ich prognostiziere jetzt mal: Berlin 12, Deutschland 57, Europa 343, Welt 992. Als Belohnung gibt es eine Flasche meines Lidl-Champagners für den Wettkönig oder die -königin. Wenn ich bis dahin noch eine übrig habe. Jenni Zylka