Swing für alle Gelegenheiten

Vor zehn Jahren: Die DDR feiert ihren 40. Geburtstag. Im Palast der Republik spielt ein Musiker für Honecker und Genossen. Draußen demonstriert das Volk. Heute swingt Andrej Hermlin für PDS und Mc Donald's  ■   Von Heike Haarhoff

Wie soll man diesen Blick beschreiben? Versonnen. Ja, vielleicht ist das das richtige Wort: versonnen. – Und seine Gestik, seine Körperhaltung? Irgend etwas muss Erich Honecker doch an Reaktionen zeigen. – Nein, er sitzt einfach nur da, auf eine Art regungslos. Einsam und verlassen, an diesem riesengroßen runden Tisch mitten im Festsaal im Palast der Republik, ohne Adjutanten, ohne Stasigefolgschaft, ganz allein. Sogar seine Gäste sind verschwunden, nicht einmal Gorbatschow ist mehr da. Honecker starrt wie entrückt auf die Bühne, wo noch irgend jemand singt, es ist ja der große Festakt zum 40. Jahrestag der DDR. Unten auf der Straße, also vor dem Palast der Republik, marschieren gerade die Demonstranten vorbei. Das Volk skandiert, tausende Menschen rufen „Wir bleiben hier“, einige stimmen die Internationale an, aber Honecker kriegt das hier drinnen alles gar nicht mit. – Auch nicht die Sicherheitskräfte, die jetzt draußen brutal gegen die aufgebrachte Masse vorgehen? – Nein, nichts, gar nichts, und wenn doch, dann hält er das alles wahrscheinlich für einen Spuk.

„Es ist ein historisches Bild“, sagt der Mann am anderen Ende der Leitung. Kann man das drucken? Da lacht er. Das Bild existiert nur im Kopf von Andrej Hermlin-Leder, seit zehn Jahren schon geistert es dort herum, doch bisher gab es für den Chef und Pianisten des Berliner „Swing Dance Orchestra“ wenig Anlass, die Erinnerungen an seinen Palast-Auftritt, am 7. Oktober 1989, dem 40. und letzten realexistierenden Jahrestag der DDR, zu veröffentlichen. Erst interessierte sich kaum jemand dafür; „antisozialistische Provokateure“, wie ihn Stasi und Mitarbeiter des Zentralkomitees beschimpften, gab es plötzlich zuhauf in der DDR. Dann fiel die Mauer, kam die Einheit und der Stress, wie das Leben als Musiker im Kapitalismus zu organisieren sei. Aber jetzt, zehn Jahre danach, sozusagen zum 50. DDR-Geburtstag? „Wir können uns zum Mittagessen treffen.“

Hermlin hoffte auf einen zweiten Prager Frühling

Andrej Hermlin-Leder. 33 Jahre. Sohn des 1997 verstorbenen DDR-Schriftstellers Stephan Hermlin. Wie sein Vater überzeugter Kommunist, seit 1990 Mitglied der PDS, zeitweilig im Berliner Landesvorstand. Hauptberuflich Swing-Musiker, heute wie früher. Wurde am 7. Oktober 1989 mit seinem Orchester offiziell zu den Feierlichkeiten der SED-Elite im Palast der Republik eingeladen. Und erklärte dort in einer unangekündigten Rede vor versammelter DDR-Nomenklatura: „Gucken Sie aus dem Fenster. Es muss doch wohl dem letzten klar sein, dass es so nicht weitergeht.“

Er habe damals die Hoffnung gehabt, die DDR sei durch „radikale Reformen zu retten“, hat er am Telefon gesagt und: „Ich wollte einen zweiten Prager Frühling.“ Wehmütig klang das. Wahrscheinlich fährt er noch einen Trabi.

Es hupt. Ein weinroter amerikanischer Schlitten, mindestens zwei Parkplätze lang, Marke Buick, Baujahr 1941. Hinterm Steuer ein seitengescheitelter Herr im maßgeschneiderten Anzug, der gerade aus dem New York der 30er Jahre in Berlin angekommen zu sein scheint, auf dem Beifahrersitz eine Karibikschönheit, „eine Kollegin“, stellt Hermlin-Leder vor, „steigen Sie doch bitte ein“.

Bis zum Italiener am Gendarmenmarkt sind es nur wenige Autominuten. Hermlin-Leder blickt aus dem Fenster. Kneipen, Geschäfte, bunt gekleidete Menschen, die hin und her eilen. „Die Stadt lebt“, stellt er zufrieden fest. „Ich war ja lange Zeit dagegen, aber wenn man ganz ehrlich ist, dann haben wir wirklich eine Wiedervereinigung erster Klasse bekommen.“ Er parkt, geht ins Lokal, bestellt: Risotto.

Sie hatten ihn schon im Frühjahr 1989 gefragt, ob er nicht spielen wolle zum Festakt vor den verdienstvollen Werktätigen, und Hermlin-Leder sagte zu. „Ich bin Berufsmusiker.“ Die Kritik von oppositionellen Freunden und Kollegen fiel, je näher der Termin rückte, so heftig wie erwartungsgemäß aus. Wie kannst du nur, was denkst du dir? Aber Andrej Hermlin-Leder konnte – er lehnte dieses System ja nicht komplett ab, „mein Vater und ich hatten da nie Differenzen“ – und dachte: dass er sie alle mit einer kleinen Ansprache überraschen würde. „Ich bin schließlich ein politischer Mensch, auch wenn ich mich nicht als Widerstandskämpfer bezeichnen würde.“ Nur einweihen mochte er niemanden, denn wenn sein Plan vorzeitig herausgekommen wäre, wäre der Auftritt geplatzt.

7. Oktober, vormittags. Im Palast der Republik baut die damals sechsköpfige Jazzband ihre Instrumente auf. Seit Wochen demonstrieren auf den Straßen von Leipzig und Dresden zehntausende für Reformen, Reise-, Presse- und Meinungsfreiheit. Andrej Hermlin-Leder gehört nicht zu ihnen. „Beim Neuen Forum fühlte ich mich nie zu Hause. Mit der Kritik konnte ich etwas anfangen, nicht aber mit den Alternativen.“ Andrej Hermlin-Leder bekommt Hunger. Mit seiner Sängerin geht er nachmittags essen im Nikolaiviertel. „Lass uns gucken, was am Alexanderplatz los ist“, schlägt er ihr anschließend vor. Hunderte Demonstranten haben sich dort schon versammelt, auf einem Podium singt ein Mann Berliner Lieder, nichts als Berliner Lieder. „Die Atmosphäre war schizophren“, sagt Hermlin-Leder.

Plötzlich tauchen wie aus dem Nichts zwei Männer auf, um sie herum bildet sich ein Pulk. „Gorbatschow, Gorbatschow“, ertönt es, „Perestroika, Perestroika“, schallt es zurück. Neben Hermlin-Leder steht mit einem Mal ein Herr in Plastejacke, Stasi, denkt sich der Musiker, und da sagt der Mann auch schon: „Siehste, das sind die angekündigten Provokationen.“ Dann geht alles ganz schnell. Menschen werden aus der Menge geknüppelt, gezerrt und verhaftet, die Versammlung gerät außer Kontrolle. „Zum Palast!“ brüllt jemand, und wie auf Kommando biegt der Pulk ab in Richtung Unter den Linden. Hermlin-Leder lässt sich mitreißen, entdeckt eine Telefonzelle, wählt eine Nummer: „Mama, der 17. Juni ist da!“

Polizisten sperren die Straßen ab. Hermlin-Leder und die Sängerin rennen zurück ins Nikolaiviertel; über Seitenstraßen gelangen sie zum Palast der Republik. Davor ein Herr im Smoking, Wut im Gesicht: Erich Mielke. „Wer ist hier der ranghöchste Offizier“, brüllt der Chef der Stasi, er, der sonst nie die Fassung verliert. Aus einem Lautsprecher tönt es: „Schützenpanzerwagen auffahren!“

Hermlin-Leder geht nach oben in den Palast. Niemand kontrolliert ihn. Von fröhlicher Feierstimmung keine Spur. Die Gäste kleben geschlossen an den Fenstern und gucken raus. Verunsichert, sich des Ernsts der Lage voll bewusst und dennoch störrisch entschlossen, die 40-Jahr-Feierlichkeiten keinesfalls abzublasen. Andrej Hermlin-Leder tritt ans Mikrofon, begrüßt die Gäste: „Bevor wir für Sie spielen, möchte ich Ihnen noch etwas sagen.“ Im Saal wird es totenstill. „Es müsste auch dem Letzten klar sein, dass es so in unserem Land nicht weitergeht. Feiern Sie heute, aber spätestens morgen müssen wir mit den Reformen anfangen, andernfalls haben wir keine Chance.“

Jetzt kann alles passieren. Sie können ihn von der Bühne reißen, die Instrumente zertrümmern, die Band verhaften. Es passiert – nichts. Außer: Die eine Hälfte des Saals applaudiert, die andere steht stumm auf, geht raus, kommt nicht wieder. Disziplin auch da noch, wo das Chaos verständlich wäre. Als Sohn des Stephan Hermlin „war ich sicher privilegiert, aber hier spielte das überhaupt keine Rolle“. Das Swing-Dance-Orchestra spielt also, Benny Goodman, Louis Armstrong, Glenn Miller, eigene Kompositionen. US-amerikanischen Swing, kein Problem. Wenn auch vor halbleerem Saal.

Und dann, sehr spät, trifft Hermlin-Leder auf dieses Bild von Erich Honecker, vereinsamt an der großen Tafel.

Das neue Deutschland ist auch nicht perfekt

Das Risotto ist kalt geworden, im Gesicht zuckt es leicht, und es ist nicht ganz sicher, ob er vor Rührung gleich einen Toast sprechen wird auf die gute alte Zeit. Nachtisch? Er überlegt kurz: „Grapefruiteis! Aber es gibt hier ja kein anständiges Grapefruiteis.“ Jedes Wort ein Triumph. Das neue Deutschland, das er bei allem Ärger über die DDR in dieser Form nicht gewollt hat, ist eben doch nicht so perfekt.

Sein Handy klingelt. Es ist die Auskunft. Ja richtig, motzt Hermlin-Leder lautstark in den Apparat, er habe sich beschwert: Statt der gewünschten Telefonnummer sei ihm vorhin eine Faxnummer mitgeteilt worden. Unnötige Kosten, schlechter Service, er schnaubt. Grinst dann plötzlich, schaltet das Handy aus: Fünf Mark werden ihm jetzt auf sein Konto gutgeschrieben. Man darf sich eben nur nichts gefallen lassen.

Er seufzt. „Alle politischen Kräfte haben doch ihren Frieden damit gemacht, dass das System wunderbar ist. Sie sehen keinen Anlass, es radikal in Frage zu stellen, mit Ausnahme der PDS.“ Daher seine Mitgliedschaft.

Andrej Hermlin-Leder muss los. Die nächste Tournee ist zu planen, daneben die normalen Auftritte, mehrere Abende pro Woche sind Standard. Die Band ist gut im Geschäft, egal ob beim Bundespresseball, auf Bürgerfesten, für Lebensmittelverbände, die Junge Union oder im stilvollen Berliner Opernpalais.

Nur noch eine Frage: Was er denn so radikal verändern wolle? Da muss er nicht lange nachdenken: „Unser Konsumverhalten unter anderem, sonst wird der nächste Zusammenbruch nicht so friedlich stattfinden.“ Dass er dabei selbst nicht mit leuchtendem Beispiel vorangeht, hat Gründe. „Es muss eine Massenbewegung sein, sonst macht es keinen Sinn und motiviert mich auch nicht.“ Der Staat müsse anordnen, „es gibt jetzt eben nur noch drei Käsesorten oder nur noch 30 Liter Benzin pro Monat, dann würde auch ich auf meinen Buick verzichten“.

Er steigt in seinen Wagen, winkt fröhlich zum Abschied: Den 7. Oktober wolle er übrigens nicht feiern dieses Jahr. Hermlin-Leder ist froh, mal einen Abend frei zu haben. Und dann warte ja schon der nächste Auftritt: Am Wochenende eröffnet Mc Donald's seine tausendste Filiale in Berlin.

Gestern sendete der Deutschlandfunk unter dem Titel „Tanz auf dem VEB Titanic“ ein Feature, in dem sich DDR-Unterhaltungskünstler an die Festveranstaltung zum 40. Jahrestag der DDR im Palast der Republik erinnerten. Einer von ihnen war Andrej Hermlin, dessen Interview der DLF der taz für ihre Recherche freundlicherweise vorab zur Verfügung stellte.