Wann darf gestorben werden?

In den Niederlanden soll demnächst ein Gesetz verabschiedet werden, das Ärzten in Absprache mit ihren Patienten die aktive Sterbehilfe erleichtern soll. Kritiker sehen darin eine Grenzverschiebung und bestreiten ein solch weitgehendes Recht von Patienten, über ihren Todeszeitpunkt mitbestimmen zu dürfen. Hintergründe von Henk Raijer

Wann immer in den vergangenen Jahren das niederländische „Euthanasiegesetz“ in die Schlagzeilen der ausländischen Presse gelangte, sahen sich Hollands diplomatische Vertretungen mit einer Flut von Fragen konfrontiert. „Stimmt es, dass in den Niederlanden alte Leute umgebracht werden?“ – „Dürfen holländische Ärzte sich weigern, jemanden zu töten, der dies verlangt?“ – „Ist in Holland die Kranken- und Alterspflege so schlecht oder so teuer, dass viele Leute ihren Arzt um aktive Hilfe bei der Lebensbeendigung bitten müssen?“

War es schon in der Vergangenheit kompliziert, Deutschen, Briten und Franzosen zu erklären, weshalb in Holland eine ärztliche Handlung zwar gesetzeswidrig sei, aber toleriert werde, so hat der Gesetzentwurf, der kürzlich ins niederländische Parlament eingebracht wurde, schon im eigenen Land ein widersprüchliches Echo ausgelöst. Denn nicht nur sollen die Niederlande als erstes Land der Welt ein Sterbehilfegesetz bekommen. Festgelegt werden soll auch, dass unheilbar kranke Kinder vom zwölften Lebensjahr an selbst über den Zeitpunkt ihres Todes entscheiden können.

Das geht den oppositionellen Christdemokraten, aber auch den regierenden Rechtsliberalen viel zu weit. Sie sprachen von einem „weiteren Schritt zum Ende des Lebensschutzes“ und nötigten Ministerpräsident Wim Kok zu der Äußerung, seine Regierung wolle „nicht unbedingt“ mehr an dem umstrittenen Gesetzentwurf festhalten. Dabei kommt das geplante Gesetz keinem Freibrief gleich. Nach wie vor muss jeder Arzt über jeden Fall einen „Euthanasie“-Bericht schreiben. Auch weiterhin ist Sterbehilfe nur in Einzelfällen unter Einhaltung genau festgelegter Vorschriften zulässig.

Um ein- für allemal aufzuräumen mit den zum Teil haarsträubenden Vorstellungen über aktive Sterbehilfe, die in den Niederlanden neutral „Euthanasie“ heißt, hat das Haager Außenministerium schon letztes Jahr eine Broschüre anfertigen lassen, die Hollands Diplomaten dabei helfen soll, gesetzliche Grundlage und künftige Praxis der „Lebensbeendigung auf Verlangen“ im Ausland zu vertreten. Das Heft, das außer auf Deutsch, Englisch, Französisch und Spanisch speziell für den Vatikan auch auf Italienisch vorliegt, heißt auf Deutsch: „Sterbehilfe“. Es enthält Zahlen und Fakten und versucht, Missverständnissen entgegenzutreten.

„Das Bitten um Sterbehilfe ist in den Niederlanden keineswegs auf Angst vor hohen Behandlungskosten zurückzuführen“, schickt Hollands Regierung gleich in eigener Sache vorweg. „Das Sozialversicherungssystem garantiert jedermann eine medizinische Versorgung.“ Eine ausreichende Pflege allein jedoch kann die tiefen Depressionen langjährig bettlägeriger Patienten angesichts altersbedingter Verfallserscheinungen oder die Leiden Aidskranker im Endstadium nicht lindern. Ebensowenig die nicht enden wollenden Schmerzen leukämieerkrankter Kinder, die der Kampf gegen den Krebs völlig erschöpft hat.

Für Tom Voûte, Professor für Kinderonkologie am Amsterdams Medisch Centrum, löst das geplante Gesetz einen Widerspruch auf. „Ein Kind konnte bislang entscheiden: ;Ich möchte nicht weiter behandelt werden.‘ Es blieb ihm aber die Möglichkeit verwehrt, über Art und Zeitpunkt seines Todes zu bestimmen.“

Sein Kollege Henk Büller, Professor für Kinderheilkunde in Rotterdam, meint, der Entwurf sei nur die logische Konsequenz aus der gegenwärtigen Praxis, wonach der Wille der minderjährigen Patienten stets ausschlaggebend sei. „Wir besprechen mit den Kindern jeden einzelnen Behandlungsschritt. Sobald sie etwas nicht wollen, machen wir das auch nicht“, erklärte Büller jüngst im Amsterdamer Volkskrant. „Von Eltern zu verlangen, über den Tod ihres Kindes zu entscheiden, ist geradezu unmenschlich. Eltern haben immer Hoffnung. Ein unheilbar krankes Kind dagegen weiß Bescheid“, so Büller. „Kinder spüren genau, wenn ihnen die Aussichtslosigkeit einer weiteren Behandlung verschwiegen wird. Da kommt es vor, dass ein krebskrankes Kind, selbst wenn ich als Arzt noch optimistisch bin, mich anschaut mit einem Blick, der besagt: ,Lass uns aufhören‘.“

Der Kinderarzt macht öfters die Erfahrung, dass ein Kind, das große Schmerzen hat, die Behandlung beenden will, die Eltern aber zu einer Einwilligung noch nicht bereit sind. Eine Konfliktsituation habe sich daraus jedoch selten ergeben. Ärzte und Psychologen redeten intensiv mit Kindern und Eltern und bestimmten zusammen über das Vorgehen, wenn sich zeige, dass weiteres Behandeln sinnlos ist. „Käme es zum Konflikt, hätte ich versagt“, meint Büller. „Denn wenn ein Kind seinen Wunsch zu sterben gegen den Willen der Eltern durchsetzten muss, sind wir auf dem falschen Weg.“

Professor Voûte hat noch nicht erlebt, dass sich Eltern eines unheilbar kranken Kindes gegen dessen Sterbehilfeersuchen sperrten. „Bis ein Kind mit einem solchen Wunsch an den Arzt herantritt, ist das in der Familie längst besprochen.“ Der Mediziner, der sich über die Vorstellung mokiert, er und seine Kollegen gingen unentwegt mit der Giftspritze durch die Stationen, stand Ende der Achtzigerjahre in der Kritik, als er sich dazu bekannte, Ärzten junger Krebspatienten lebensbeendende Pillen verschafft zu haben.

Tom Voûte bietet nach wie vor unheilbar kranken Kindern, die darum bitten, die Möglichkeit, in den Besitz eines Medikaments zu gelangen, das ihnen erlaubt, selbst über den Zeitpunkt ihres Todes zu bestimmen. In den vergangenen Jahren hat der Kinderarzt feststellen können, dass junge Patienten selten von dieser Gelegenheit Gebrauch machten. „Die meisten sterben auf natürliche Weise. Offenbar reicht ihnen die Gewissheit, im Falle äußerster Not nicht abhängig zu sein.“

Obwohl Sterbehilfe in keinem anderen europäischen Land legal ist, rechnen Mediziner nicht damit, dass ausländische Patienten ihre „letzte Hilfe“ künftig in Holland suchen könnten. Dafür sei das geplante Gesetz zu strikt. Ärzte würden nur solchen Patienten helfen, die sie seit Jahren kennen und betreuen. Indes dürfte die Kodifizierung der gegenwärtigen Praxis die Sterbehilfe in den Augen vieler Europäer wenn auch nicht akzeptabler, so doch verständlicher machen. Niederländische Botschaften erhalten oft Anrufe alter, kranker Menschen, die sich erkundigen, ob sie eine Fahrt nach Holland unternehmen könnten. Nicht selten, so ein Sprecher der Botschaft in London, reagierten solche Anrufer enttäuscht, wenn man sie darauf hinweise, „dass man in Holland Sterbehilfe nicht wie ein Aspirin im Laden kaufen“ könne. Während in Deutschland das Thema und vor allem die Bezeichnung „Euthanasie“ weitgehend tabu sind – der Begriff ruft automatisch Assoziationen mit der systematischen Ermordung geistig Behinderter durch die Nazis hervor –, wird aktive Sterbehilfe in den Niederlanden seit Jahren praktiziert. Nach allgemeiner Überzeugung passt sich das Parlament, sollte es das Gesetz verabschieden, sich damit nur der Praxis der letzten Jahre an.

Die öffentliche Diskussion ist in Holland viel weiter als die Gesetzeslage. Maßgeblich in Gang gehalten wird sie durch die „Nederlandse Vereniging voor Vrijwillige Euthanasie“ (NVVE), einer Vereinigung mit knapp fünfzigtausend Mitgliedern, die ausnahmslos im Besitz einer schriftlichen „Euthanasieverklaring“ sind. Der NVVE geht das geplante Gesetz nicht weit genug, da es nicht die Autonomie des Patienten in den Mittelpunkt stelle, sondern es nach wie vor dem Arzt überlasse zu entscheiden, ab wann sein Patient „unerträglich und unnötig“ leide; Kritikern verteufeln es als unzulässige „Grenzverschiebung“. Würden mehr Mittel in sterbebegleitende Maßnahmen und Schmerzbekämpfung investiert, heißt es, käme „die tödliche Spritze“ nicht so oft zum Einsatz.

Ist legale Sterbehilfe also ein Segen für jene, die ihr Leben nicht in einem Zustand körperlicher wie geistiger Auflösung beenden möchten? Oder regiert hier die „Ethik des Tierarztes“, wie erklärte Gegner ihren Widerstand polemisch auf den Punkt bringen? Die Sorgfalt und die Transparenz, mit denen Hollands Mediziner bislang Sterbehilfe bei todkranken Menschen, die dies ausdrücklich wünschten, praktiziert haben, legen eine gesetzlich verbriefte Straffreiheit für Ärzte nahe. Autonomie als moralisches Leitmotiv im Gesundheitswesen jedoch ist problematisch und munitioniert die Kritiker geradezu. Diese geißeln das Selbstbestimmungsrecht des Patienten in Zeiten, in denen Kirche und Moral eine immer unbedeutendere Rolle spielen, als „fundamentalistischen Humanismus“.

Für die Gegner der Sterbehilfe sind mit einer Legalisierung alle Dämme gebrochen. War zu Beginn der Diskussion um ein „Euthanasiegesetz“ lediglich eine „physische Krankheit ohne Aussicht auf Heilung“ die Definition für eine Situation, in der Sterbehilfe als zulässig galt, so sind in Holland inzwischen auch „psychische Not“ und sogar Demenz ein Faktor geworden. Furore machte im Sommer der Artikel eines Psychiatrieprofessors aus Amsterdam, der angesichts einer steigenden Zahl Pflegebedürftiger bei gleichzeitiger Gesundheitssparpolitik einen Kausalzusammenhang herstellte zwischen der Qualität von Pflege und dem gewachsenen Todesverlangen alter Menschen. Wochenlang kochten Befürworter wie Gegner der Sterbehilfe ihr Süppchen auf den Thesen des Adriaan van Dantzig, der im Volkskrant vorgeschlagen hatte, Sterbehilfe solle für altersschwachsinnige Patienten zulässig sein für den Fall, dass diese „in gesunden Zeiten“ schriftlich erklärt hätten, vor dem Stadium der Demenz aus dem Leben scheiden zu wollen.

Das „Euthanasiegesetz“, das die linksliberale D 66 eingebracht hat, wird nach fünfzehnjährigem Gezerre im Haager Parlament so oder so verabschiedet werden. Die Diskussion um die Gleichsetzung von Krebs und Demenz, um Selbstbestimmung oder Paternalismus sowie um die berechtigte Angst alter Menschen und todkranker Kinder vor der Abhängigkeit geht notwendig weiter.

Henk Raijer, 45, ist taz-Autor seit Mitte der Achtzigerjahre und taz-Tagesthemenredakteur. Der Niederländer lebt in Berlin und Warschau.