Tagung über Kinderverhaltenstherapie an der Uni/ Kindheit wird neu entdeckt: Immer mehr Einzelkinder und Scheidungswaisen brauchen besonderes Verständnis

200 Ärzte, Lehrer, Psychologen kommen am Wochenende nach Bremen – mit dem Ziel, mit stress-geplagten Kindern besser fertig zu werden. Auf den 21. Kinderverhaltenstherapietagen geht es zwei Tage lang um Zappelphillips, Schulverweigerer, und Neurodermitis-Kranke. Die häufige Ursache für diese Probleme: Stress in frühen Kinderjahren.

Stress bei Kindern ist ein Thema, das boomt, sagt Organisator Prof. Franz Petermann. „Stress bei Managern gibt es schon seit 20 Jahren.“ Aber das Verständnis, dass auch Kinder Stress haben, sei relativ neu. „Bis vor wenigen Jahren hat man nur in Krankheiten gedacht, heute geht es um Prävention.“ Denn wenn man die Ängste der Kids in den Griff kriegt, vermeidet man womöglich später psychische Probleme, so die Hoffnung der Psychologen.

Früher war das Interesse am Thema randständig, sagt Petermann. Da habe man sich nicht so systematisch damit beschäftigt. „Aber bei immer weniger Kindern heutzutage wird die Kindheit neu entdeckt“, sagt der Psychologe.

„Ich glaube nicht, dass das eine Modeerscheinung ist: Denn Kinder sind heute viel mehr Risiken ausgesetzt als früher“, sagt Petermann. Einzelkinder erleben zum Beispiel im Kindergarten zum ersten Mal Rivalität. „Das Kindsein hört im Kindergarten auf“, so Petermann.

In der Schule fange der Wettbewerb dann erst richtig an. Gleich in der ersten Klasse beginnt der Leistungsdruck: Um später einen Arbeitsplatz zu kriegen, muss man vom ersten Schuljahr an gute Leistungen bringen. Auch die „ehrgeizigen Mamis und Papis“ mischen da deutlich mit, klagen Psychologen. Petra Hampel, vom Zentrum Stress-Labor der Universität Bremen, erzählt zum Beispiel schon von 6jährigen Schulverweigerern, die aus Angst vor Lehrer, Mitschülern und Klassenarbeiten zuhause bleiben wollen. Bei Mädchen in der fünften, sechsten Klasse geht das Stresspotential noch mal deutlich hoch, so die Erfahrung der Psychologin. Da schlägt die Pubertät voll ein. „Die machen sich dann unheimlich viel Sorgen und resignieren zum Teil auch.“ Selbst in der 13. Klasse gibt es manchmal Probleme mit akuten Schreibblockaden.

Früher gab es den Kinderstress nicht, oder man hatte ihn einfach nicht beachtet. Aber früher war es ganz bestimmt nicht toll, korrigiert Hampel: „Für manche war auch damals schon die Schulzeit der reine Horror.“ Aber heute sind Kinder weniger lange Kind, sagen die Psychologen, nur die Jugendzeit, die Studierzeit, die werde immer länger.

Auch zu Hause hat sich viel verändert für die Kids: 60 Prozent Einzelkinder. Immer mehr Schei-dungskinder. „Wir geben Kindern heute weniger Zeit“, sagt Petermann, „und Kinder müssen heute funktionieren.“ Denn auch die Erwachsenen müssen massiven Anforderungen gewachsen sein. „Früher hatten wir immer noch gemeinsame Mahlzeiten, Rituale“ erinnert sich die Psychologin Petra Hampel. Heute hätten Eltern ganz viel Stress, ihren Kindern alles bieten zu können. „Die Eltern sagen: Ich muss meinen Kindern Inliner kaufen, einen Computer. Wir sagen ihnen: Nehmen sie sich einmal Zeit für die Kinder“, sagt Hampel. Ein gemeinsames Essen wäre manchmal viel sinnvoller. „Manchmal ist es schon schwer, überhaupt einen Termin zum Training zu finden“, klagt die Psychologin.

Symptome für den Stress sind unterschiedlich: Kopfschmerzen, Magenschmerzen, Bettnässen, Schlaflosigkeit. Studien zeigten, dass 17 Prozent der Kids mehrmals in der Woche unter Kopfschmerzen leiden, bis zu elf Prozent unter Magenkneifen. Schlaflosigkeit liege oft noch viel höher. Nicht immer werden die Ängste der Kids richtig eingeschätzt. „Manchmal gibt es Null Zusammenhang“ zwischen dem, wie die Kinder das sehen und die Eltern oder die Lehrer, sagt Hampel. Oft wird das Problem also gar nicht als Problem thematisiert. Helfen kann zum Beispiel ein Training, das das Zentrum für Rehabilitationsforschung der Universität Bremen entwickelt hat. Beruhigungsrituale werden hier geübt. Die Kinder werden spielerisch geschult, ihre Gefühle wahrzunehmen und zu kommunizieren.

Mit der Tagung an diesem Wochenende werden diejenigen geschult, die mit Kindern arbeiten. Möglichst interdisziplinär ist die Mischung der Teilnehmer. In Workshops wird mit Rollenspielen und Förderprogrammen trainiert, die helfen sollen, Stresskids zu beruhigen. Früher meldeten sich gerade 30 bis 40 Leute an. Heute sind es 200 – „und mehr hätten wir nicht in den Workshops unterbringen können“, so Petermann. Ein positives Zeichen, sagt Petermann. Vielleicht hat sich das Problem Stresskids irgendwann erledigt. pipe