In den Siebzigerjahren war die SPD Lokomotive der Gesellschaft, heute wirkt sie chloroformiert und indifferent

Warum lagen nach 16 Jahren Opposition keine Konzepte in der Schublade?

Obwohl es hundertmal richtig ist, es hängt einem inzwischen zum Hals heraus: Der Mann mit der Cohiba-Zigarre im Rachen und dem schrankbreiten Zweireiher sei schuld an den Niederlagen der SPD. Der kaltschnäuzige Schröder bringe die warmherzige SPD auf Null. Der Kanzler habe gar „die Seele der Partei“ verraten.

Die lieben Genossen: ein Herz und eine Seele. Da fragt man sich verdutzt, warum eigentlich niemand in dieser Partei das Hirn bemüht, wenn es um die Innereien der „Traditionspartei“ geht. Seit Monaten muss ein aufgeplustertes Kunsthaartoupet namens Schröder/Blair-Papier die kahle Stelle überdecken, unter der mal gedacht und konzipiert wurde. Die unter Theorie-Alzheimer leidende Altpartei hat intellektuell nichts mehr zu bieten: Die Achtzigerjahre wurden gesellschaftlich verbummelt, die Neunziger personell vergeigt. Das theoretische Niveau – die Fähigkeit, Wirklichkeit zu erfassen, begrifflich zu durchdringen und damit begreifbar zu machen – ist nicht nur nach Meinung des SPD-Pensionisten Peter von Oertzen an einem „historischen Tiefpunkt“ angelangt. Nicht einmal der Rücktritt des Vorsitzenden, eine in der SPD einmalige Verzweiflungstat, ist innerparteilich thematisiert worden. Wie nach einem Autounfall redete sich die Partei den Schock vom Leib: Ruhig bleiben, nichts ist passiert, wir sind Sozialdemokraten und wohnen im Willy-Brandt-Haus.

Nein, nicht der böse Bube Schröder, die kreuzbrave SPD ist das Problem. Sie ist organisatorisch, inhaltlich und personell nicht in der Lage, das Heft in die Hand zu nehmen. Ihre Basis zerfällt.

Aus Mangel an Neumitgliedern werden die Ortsvereine zusammengelegt, Versammlungen finden vielerorts nur noch quartalsweise statt. Von der realen politischen Auseinandersetzung ist die Basis längst ausgeschlossen, teils selbst verschuldet, teils wird sie von einer zentralisierten Kampa-Partei stillgelegt. Die Mitglieder haben es versäumt, ihre passiven Vereine in aktive Bürgerinitiativen umzuwandeln.

Statt an echten Konflikten teilzunehmen und dadurch Politik zu machen (learning by doing), wird unproduktiv herumgehockt. Die innerparteiliche Demokratie ist hinweggerafft, die Parteitage sind zu Schaufensterveranstaltungen geworden. Debatten nach Wahlniederlagen sind verpönt und nach Wahlsiegen sowieso. Eine selbstbewusste Partei ist „draußen im Lande“ nicht zu erkennen. Schröder weiß das. Sein maliziöses Lächeln nach katastrophalen Wahlsonntagen spricht Bände.

Gleichzeitig kommt aber auch keinerlei Orientierung aus der Partei selbst. Welcher der 22 „Bezirksfürsten“ hat in den letzten Jahren mit einem politischen Konzept von sich reden gemacht? Wer außer Lafontaine hat für eine Position so heftig gefochten, dass er identifizierbar geworden wäre?

Hatte die Partei in den Siebzigern eine Hand voll einflussreicher Paradiesvögel, die über den Tag hinaus dachten (den Parteivorsitzenden eingeschlossen), so stehen die Vordenker inzwischen auf der roten Liste der innerparteilich bedrohten Arten: Hermann Scheer, tapferer Initiator einer solaren Weltgesellschaft – und sonst? Glotz, Bahr, Eppler sind längst in Rente. Und der künftige Generalsekretär fällt primär durch gedankliche Unauffälligkeit auf.

Geprügelt wird mannesmutig der Kanzler. Von Dilettantismus ist die Rede und vom Kanzleramt als Rabattbude für Lobbyistenerpressung. Doch was hat die Partei in 16 Jahren ihrer Opposition gemacht? Warum lagen keine durchgerechneten, praktizierbaren Konzepte in den Schubladen?

Schon 1986 hatte die SPD den Atomausstieg auf ihrem Nürnberger Parteitag beschlossen. Aber erst mit ihrem Regierungsantritt 1998 begann sie darüber nachzudenken, wie Atomausstieg eigentlich geht. Auch der Umbau der Sozialversicherungssysteme, die Reform des öffentlichen Dienstes, der Schuldenabbau, die Steuerreform, die Arbeitsmarktpolitik wurden als Themenfelder nicht erst in den Schreibtischen der Vorgängerregierung gefunden, sie lagen seit Jahren offen zu Tage. Haben die SPD-Experten 16 Jahre lang Däumchen gedreht? Um dann von diesem Versagen abzulenken, indem sie über ihr Ziehkind Schröder herfallen?

Sie wollen nicht wahrhaben, dass er sozialdemokratisches Urgestein ist, Stein von ihrem Stein. Zuerst haben sie jahrelang postuliert, dass es in der Postmoderne nur noch darauf ankäme, Interessen zu moderieren, anstatt sie klar zu vertreten. Nun beschweren sie sich über ihren obersten Moderator, der zwischen den kleinen Verhältnissen seiner Herkunft und den großen Zigarren seiner Lieblingsbosse hin und her moderiert. Ach, hört man sie dann sehnsüchtig seufzen, der Willy, der Willy, der hatte ein tolles Projekt: die Entspannungs- und die Ostpolitik. Der böse Schröder will uns nur an die Globalisierung anpassen.

Die Parteinostalgiker verkennen, dass beide Politiken etwas Wesentliches gemeinsam haben: die Annäherung an existierende Realitäten. Damals war das die Realität der Koexistenz, heute die Realität des kapitalistischen Durchmarschs. Der Unterschied ist nur, dass zu Willys Zeiten die Partei die Lokomotive, die Avantgarde (!) der Gesellschaft war, während sie heute als Bremser gilt.

Die unter Theorie-Alzheimer leidende SPD hat intellektuell nichts zu bieten

Zu Willys Zeiten war es die reizvolle Aufgabe der Neuen Mitte aus Harpprecht und Böll, die Gesellschaft auf die Höhe der Zeit zu bringen. Es ging den Sozialdemokraten darum, die Dinge beim Namen zu nennen, die Rückwärtsgewandtheit der formierten Gesellschaft zu brechen. Heute ist es umgekehrt. Die Gesellschaft ist auf der Höhe der Zeit, nur die SPD wirkt gefesselt und (chloro)formiert. Die Menschen erleben, wie die Schutzwälle des Wohlstands und des Anstands zerbrechen, während sich die gute Tante SPD die Melodie von der Schutzmacht der kleinen Leute vorspielt. Selbsthypnotisch glaubt sie an ihre eigene Gutenachtgeschichte und weigert sich, die neuen gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse wahrzunehmen – aus Trägheit, aber auch aus Angst, eindeutige Positionen beziehen zu müssen.

Anstatt Modernisierung und Globalisierung – diese entpolitisierenden Decknamen für handfeste wirtschaftliche Interessenkonflikte – nur gebetsmühlenartig zu wiederholen, müsste die SPD eine schlüssige sozialdemokratische Interpretation dieser ökonomischen Prozesse anbieten. Und schlüssig heißt, auf der Grundlage einer Analyse Partei zu ergreifen. Nichts hassen die Menschen mehr als hasenherzige Indifferenz.

So lange sich die SPD aber einreden lässt, dass schon die Erwähnung der tatsächlichen Verhältnisse ein ungebührlicher Rückfall in klassenkämpferische Zeiten sei, so lange wird sie umherirren und irgendwann das Zünglein an der Waage zwischen CDU und PDS sein. Wolfgang Michal