■ Tschetscheniens Gesandter in Moskau, Mayrbek Watschagajew, über den neuen Krieg im Kaukasus, dessen Profiteure, den Einfluss der Islamisten und die Abkehr Europas von Tschetschenien

Mayrbek Watschagajew (34), Historiker, ist seit zwei Monaten Gesandter der Tschetschenischen Republik Itschkerija in der Russischen Föderation. Vorher war er Pressesprecher von Tschetscheniens Präsident Aslan Maskhadow.

taz: Ihr Präsident führt jetzt Krieg mit Russland, dabei hatte er die Situation im eigenen Land nicht unter Kontrolle.

Mayrbek Watschagajew: Das stimmt so nicht ganz. In allen Bezirken arbeiteten Maskhadows Verwaltungen. Etwas anderes ist, dass ein Mensch wie Schamil Bassajew in Dagestan einziehen konnte, ohne Maskhadow zu fragen. Doch weder Bassajew noch die Wahabiten können es sich heute erlauben, bewaffnet gegen Maskhadow anzutreten.

Lässt sich das Machtverhältnis in Zahlen fassen?

Nachdem Bassajew eine ganze Woche lang im Fernsehen zu einer Demonstration gegen Maskhadow aufgerufen hatte, versammelten sich etwa zweitausend Menschen im Zentrum von Grosny. Da forderte Maskhadow seine Anhänger auf, am darauffolgenden Tag auch zu demonstrieren. Und über Nacht gelang es ihm, zwischen fünfzig- und siebzigtausend Leute zu mobilisieren.

Was ist mit der Kriminalität?

Mit dem Problem des Kidnappings können wir aus eigenen Kräften nicht fertig werden. Uns fehlt die dafür notwendige Polizei und auch die juristische Basis. Und warum sollen diese Banditen auch ehrliche Arbeit tun, solange ein Boris Beresowski ihnen für jede Geisel Millionen Dollar zahlt.

Der Freund der Jelzin-„Family“ Beresowski hat geschworen, er zahle keine Lösegelder.

Für den Franzosen François Costel hat er drei Millionen Dollar gezahlt. Vor zwei Monaten wurde für einen Neuseeländer eine ähnliche Summe gezahlt. Diese Leute verschwanden in Nachbarländern, wurden dann aber an die Banditen in unserem Land weiterverkauft. Und Beresowski löste sie jedesmal mit Wahnsinnssummen aus. Er hielt das Geiselgeschäft in Gang.

Einfach so zum Spaß?

Dahinter stehen natürlich weiterreichende Interessen. Je höher die Spannungen im Nordkaukasus, desto besser geht es hier in Moskau dem Präsidenten und seiner Mannschaft.

Was für ein Rechtssystem hätte denn Tschetschenien als selbstständiger Staat?

Wir haben jetzt eine Verfassung nach litauischem Vorbild. Aber während des Krieges 1994 – 1996 wurden wir damit konfrontiert, dass der Westen uns aus Europa hinausdrängte. Da war, wie immer, die Rede von den „inneren Angelegenheiten“ Russlands. Das entfachte in unserem Volk eine Wut gegen den Westen. Unsere Leute verstanden nicht, wie man es als „innere Angelegenheit“ bezeichnet, wenn man sie zu zehntausenden umbringt. Auf diese Erfahrung stützen sich jetzt bei uns gewisse islamische Kreise. Sie versuchen jetzt eine Verfassung auf Schariah-Basis durchzusetzen.

Wie wird dieser Krieg weitergehen?

Ich bezweifle nicht, dass die Russen vor uns ausreißen werden wie Schafsleder.

Wie erfolgversprechend sind die Versuche der Russen, die besetzte Zone in ein Schaufenster zu verwandeln?

Die Propaganda behauptet, die russischen Soldaten dort teilten ihre Rationen mit der Bevölkerung. In Wirklichkeit betteln sie um Brot. Und wieder sind sie verlaust und starren vor Dreck. Sie bieten so einen heruntergekommenen Anblick, dass sie unseren Leuten leid tun. Das ist keine Armee. Es wird sich alles wiederholen.

Was könnte man tun, damit sich die Sache nicht so lange hinzieht?

Wir fühlen, dass wir wieder allein gelassen werden. Niemand wird uns helfen. Da kam ein Vertreter des deutschen Außenministeriums angereist, um sich ein Bild von der Situation zu machen. Ja, was konnte er sich denn für ein Bild machen, wenn er nur mit dem Stellvertreter des russischen Außenministers Iwanow redete und weder mich noch sonst irgendeinen Tschetschenen anrief? Und wenn er niemanden von uns fragte: Was ist dort unten bei euch eigentlich los?

Treibt Europa Sie den Islamisten in die Arme?

Deshalb werde ich letztendlich gezwungen sein, eine Schariah-Verfassung zu unterstützen, obwohl ich bis zuletzt für eine nach europäischem Vorbild kämpfen werde. Ich habe mich an die Führer von Deutschland, Großbritannien und Frankreich gewandt mit der Bitte, wenigstens je fünf Studenten aus unserem Land bei sich ausbilden zu lassen. Damit diese jungen Leute am eigenen Leibe erfahren, dass es so etwas wie eine europäische Zivilisation gibt und dass sie ihren Zauber und ihre Vorteile hat. Sie könnten Ingenieure oder Ärzte werden, die wir dringend brauchen. Sie würden dann zu Hause Werbung für die europäische Kultur machen. Fünfzehn Menschen, wäre das denn für Europa ein zu hoher Aufwand? Das arme Jordanien, Saudi-Arabien und der Iran bilden hunderte unserer jungen Männer aus. Nur vermitteln sie ihnen außer religiösen Lehren keinerlei praktisch verwendbare Kenntnisse. Bei uns sind die Leute allergisch gegen diese Typen mit ihren Rauschebärten und kurzen Höschen. Wir haben unseren eigenen Islam in Jahrhunderten entwickelt. Aber Europa schließt uns heute aus aus seinem System, dass uns trotz allem immer näher gewesen ist.

Interview: Barbara Kerneck