Walter Momper gegen Eberhard Diepgen, dieses Duell hat Tradition. Seit 15 Jahren regiert dasselbe Personal Berlin – und langweilt so die Berliner. Der rote Schal ist nun blassrot, und ein neuer Anzug macht einen Konservativen nicht zum modernen Politiker

Peter Radunski steht ein wenig hilflos auf der Friedrichstraße, der neuen Glitzermeile im Herzen Berlins. „Eine Zeitung von der CDU?“, fragt der Kultursenator, ein alter Weggefährte des Regierenden Bürgermeisters Eberhard Diepgen. Doch viele Passanten winken ab, die meisten erkennen ihn nicht einmal. In ein Gespräch verstricken lässt sich niemand.

Wohl noch nie hat eine Kampagne das Publikum so gelangweilt wie derzeit in Berlin. Das Ergebnis der morgigen Wahlen scheint seit Monaten festzustehen. Die CDU wird gewinnen, die SPD wird verlieren, trotzdem werden beide Parteien ihre ungeliebte Koalition fortsetzen.

Die Verdrossenheit des Wahlvolks rührt von der Blässe der Kandidaten her. In der Stadt, die sich in den letzten zehn Jahren so rasant verändert hat, agiert seit 15 Jahren dasselbe Personal. 1984 wurde Diepgen zum ersten Mal Bürgermeister, wenig später übernahm Walter Momper die Führung der SPD. 1989 gewann Momper die Wahlen, zwei Jahre später kam Diepgen wieder ans Ruder. 1995 musste sich Momper schon bei der Kandidatenkür geschlagen geben. Jetzt tritt er zum dritten Mal gegen Diepgen an.

Momper hat die Hoffnung schnell enttäuscht, er könne die SPD aus der undankbaren Rolle des CDU-Juniorpartners erlösen. Nach fast sieben Jahren in der Baubranche hatte er spürbar Mühe, sich auf dem politischen Parkett wieder zurechtzufinden. Mit fettigem Haarkranz und schlecht sitzendem Anzug wirkte er wie eine Figur aus einer anderen Zeit.

Viele Berliner hatten sich nach dem Scheitern des rot-grünen Senats 1990 ihr Urteil über Momper schon gebildet. „Warum“, fragt ein Meinungsforscher, „sollten sie es jetzt revidieren?“ Jene Berliner aber, die Momper verehrt hatten, waren erst recht enttäuscht: Sie maßen Momper an der historischen Ausnahmesituation des Mauerfalls. Doch der Mythos vom „Mann mit dem roten Schal“ ließ sich in gewöhnlichen Zeiten nicht reaktivieren.

Seine Partei, die ihn ohnehin nur halbherzig unterstützt hatte, ließ ihn schließlich fallen. Zwei Wochen vor der Wahl verschwand das Konterfei des Kandidaten aus dem Stadtbild – und machte einem minimalistischen Plakatmotiv Platz, das wie ein Hilferuf klang: „Für Berlin. Wir kämpfen!“

Gerhard Schröder, der Momper noch bei der parteiinternen Urwahl unterstützt hatte, achtet inzwischen auf Distanz. Gerät der glücklose Kandidat in seine Nähe, ergreift der Kanzler panisch die Flucht. Die Bundespartei hat die Berliner Wahl ohnehin längst abgeschrieben – und sich frühzeitig entschlossen, über die absehbare Schlappe nicht mehr zu reden. Glaubt man den Umfragen, wird die SPD das blamable Resultat von 1995 noch einmal unterbieten. Damals war sie auf 23,6 Prozent gekommen, das schlechteste Ergebnis seit dem Krieg.

Da werden die Ziele bescheidener. Längst wird darüber spekuliert, ob Momper auch als Senator an Diepgens Kabinettstisch Platz nehmen könnte – eine Vorstellung, die den CDU-Fraktionschef Klaus Landowsky an „Körperverletzung“ denken lässt. Denn bis heute ist es Diepgens größtes Trauma, dass er den Fall der Mauer auf der Oppositionsbank erleben musste. Auch im Wahlkampf hat er die direkte Konfrontation mit dem Herausforderer gemieden.

Dabei müsste Diepgen dem SPD-Kandidaten eigentlich dankbar sein. Ohne den glücklosen Momper als Widerpart hätte der Amtsinhaber nie jene hohe Popularität erreicht. Gern höhnt Diepgen über die soziale Kälte der Genossen, bei denen sich „der Eisschrank“ öffne. Doch so sehr der Bürgermeister auch beschwört, in Berlin müssten sich „die Menschen wohl fühlen“ – seine Ausstrahlung kommt über das Niveau eines Kühlschranks nicht hinaus.

Auch Parteifreunde mokieren sich hinter vorgehaltener Hand über Diepgens Vorliebe fürs Aktenstudium. Seine Reden hält er in pastoralem Ton, die Hände breitet er zur immer gleichen Beschwörungsgeste aus. „Der Sachstand“, so beginnt er seine Antworten in Fernsehinterviews, „ist nach meiner Kenntnis wie folgt ...“.

Im letzten Herbst galt Diepgen schon als politisches Auslaufmodell. Die Parallelen zum abgewählten Bundeskanzler Kohl drängten sich geradezu auf. 13 Jahre lang war Diepgen damals schon Bürgermeister. Seine Amtszeit zerfiel, wie bei Kohl, in zwei Phasen: Eine krisengeschüttelte Anfangszeit in den 80er-Jahren und in den 90ern eine Ära als geradezu präsidialer Regierungschef, dem Koalitionsalltag zunehmend entrückt.

Als aber das Ansehen der rot-grünen Bundesregierung verfiel, begann Diepgens Stern wieder zu steigen. Flankierend unterzogen ihn seine Berater einer Verjüngungskur, ließen ihn öffentlich durch die Stadt joggen und einen modischen Anzug kaufen. Es störte sie nicht, dass dieses Image immer wieder mit dem real existierenden Diepgen kollidiert, der den Musiksender MTV beharrlich auf Deutsch ausspricht und das Wort Internet falsch betont.

Mag sein, dass sein unauffälliges Wesen dem Bürgermeister eher nützt als schadet. Diepgen steht für Langeweile und Beständigkeit. Genau das ist es, was sich viele Berliner nach zehn Jahren rasanten Wandels jetzt wünschen. Während sich die SPD nach dem Sieg bei der Bundestagswahl erst einmal ausruhte, hat die Union dieses Gefühl mit einer professionellen Wahlkampagne bedient.

Allmählich bekommt Diepgen Angst vor dem eigenen Erfolg. Bei einem allzu schlechten Abschneiden der SPD könnte ihm der Koalitionspartner abhanden kommen. Aber auch eine absolute Mehrheit, die nach den Umfagen nicht mehr ausgeschlossen ist, wäre für Diepgen unbequem. Seine innerparteilichen Gegner ließen sich nicht mehr unter die Koalitionsdisziplin zwingen. Freilich will Diepgen nicht den Eindruck erwecken, als wolle er die Wahl nicht gewinnen. „Ich habe auch den Traum“, rief er beim Wahlkampfabschluss dem Parteivolk entgegen, „einmal regieren zu können, ohne ständig an Anhängsel denken zu müssen.“

Doch Diepgen wäre nicht Diepgen, würde er nicht hinzufügen: „Ich bin auch Realist.“ Da ist sie wieder, die bewährte Langeweile. Ralph Bollmann, Berlin