■ In Spanien sammelt der Ankläger Augusto Pinochets weiter Beweise

Madrid (taz) – „El pueblo unido jamás será vencido“ – „Ein einig Volk wird nie besiegt“ – schallte gestern der Ruf aus den Zeiten der chilenischen Volksfrontregierung unter Salvador Allende über den Platz Puerta de Sol im Zentrum Madrids. Mit dem Radio in der Hand warteten hunderte von Menschen auf die Entscheidung von Richter Ronald Bartle in London. Dann, um 12.17 Uhr, kam die Nachricht: „Der Ex-Diktator Augusto Pinochet darf nach Spanien ausgeliefert werden.“ Jubel und Freudentränen, vor allem bei den zahlreichen Angehörigen von Verschwundenen und Folteropfern. Vielen der Versammelten war ihre Erleichterung anzusehen. Bis zum Schluss hatten sie befürchtet, der als besonders konservativ bekannte britische Richter könne anders entscheiden und den Antrag seines spanischen Kollegen Baltazar Garzón zurückweisen.

Doch Bartle gab dem spanischen Antrag in vollem Umfang statt. General Pinochet, unter dessen Regierung von 1973 bis 1990 über 3.000 Menschen durch Folter starben oder ganz einfach verschwanden, darf in Spanien wegen „Verschwörung“ und 35 Fällen von Misshandlung vor Gericht gestellt werden. Dabei handelt es sich nur um Menschenrechtsverletzungen, die nach dem 8. Dezember 1988 begangen wurden, dem Datum, an dem London die Anti-Folter-Konvention der UNO in britisches Recht übernahm.

London habe nur zwei Möglichkeiten gehabt, meint Carlos Slepoy, einer der spanischen Anwälte der Opfer der chilenischen Diktatur: „Entweder die Auslieferung oder ein Verfahren vor Ort in Anwendung der Anti-Folter-Konvention der UN.“ Slepoys Kollege Joan Garces, der das Pinochet-Verfahren vor drei Jahren ins Rollen brachte, hielt sich gestern in den USA auf, um dort neue Unterlagen über die chilenische Diktatur zu sichten, die die CIA gestern veröffentlichte. Garces, einst persönlicher Berater des von Pinochets Truppen gestürzten und ermordeten chilenischen Präsidenten Salvador Allende, hofft weiteres belastendes Material zu finden.

Jetzt hängt alles vom britischen Anwalt Pinochets ab. Clive Victor Nicholls hat zwei Wochen Zeit, um im Namen seines Mandanten Berufung gegen die Entscheidung einzulegen. Dann könnte sich das Auslieferungsverfahren bis zu zwei Jahren durch die Instanzen ziehen. Am Ende wäre auch diese Entscheidung nicht bindend, denn nach britischem Recht hat Innenminister Jack Straw bei Auslieferungen immer das letzte Wort. In den vergangenen Wochen wurden immer wieder Gerüchte laut, dass die britische Regierung mit Pinochet-Anwalt Nicholls längst eine andere Lösung ausgehandelt habe. Demnach soll Pinochet die Widerspuchsfrist ungenutzt verstreichen lassen. Dann müsste Straw bereits in zwei Wochen entscheiden. Und der soll, so die britische Presse, Anwalt Nicholls eine humanitäre Lösung des Falles versprochen haben. Er wolle den 83-jährigen General aus Gesundheitsgründen in seine Heimat zurückkehren lassen. Pinochet-Tochter Lucia setzt genau auf diese Karte: „Mein Vater hat die Lust am Leben verloren“, sagt sie. Doch der Ex-Diktator und Senator auf Lebenszeit will davon nichts wissen. Der General, der nach Angaben seiner Ärzte kürzlich zwei Schlaganfälle erlitten haben soll, lehnt jede humanitäre Lösung ab. „Er wird nie um Vergebung bitten. Er fühlt sich unschuldig“, erklärt Lucia.

Die an der Puerta de Sol versammelten Menschen wollten gestern nicht über das weitere Vorgehen Pinochets spekulieren. Sie feierten ihren späten Sieg über den Diktator. „Nach so vielen Jahren hätte ich nicht im Traum daran gedacht, dass uns noch einmal Recht widerfährt“, schluchzte eine chilenische Frau, die einst miterleben musste, wie ihre Kommilitonen auf dem Campus der Universität in Santiago de Chile erschossen wurden. „Danke an alle Spanier, die uns unterstützt haben“, ruft eine andere. Reiner Wandler