■ In Santiago de Chile fielen sich Menschen, die unter Pinochet gelitten hatten, nach einer endlosen Nacht des bangen Wartens erleichtert in die Arme, tanzten und sangen

Buenos Aires (taz) – Wieder einmal haben sie die ganze Nacht gegenüber des Regierungspalastes La Moneda in Erinnerung an die Ermordeten und Gefolterten der Militärdiktatur Augusto Pinochets (1973 – 1990) ausgeharrt. 300 Menschen zogen mit Kerzen durch das Zentrum der chilenischen Hauptstadt Santiago. Wie würde der Richterspruch in London lauten?

Immer mehr Menschen kamen in den frühen Morgenstunden in den Sitz der Organisation der Pinochet-Opfer. Im vergangenen Jahr hat sich der Hinterhof des Altbaus zum Treffpunkt all derer entwickelt, die den Ex-General in Spanien vor seinem Richter sehen möchten. Überall hängen Transparente, darauf ganz groß die Wörter „Gerechtigkeit“ und „Justiz“.

Mehrere chilenische Fernsehsender berichten live aus London über das Verfahren gegen Pinochet. Die Angehörigen fassten sich an den Händen und starrten nervös auf die Bildschirme. Dann endlich, um 6.20 Uhr morgens chilenischer Zeit, kam die für sie erlösende Entscheidung: Pinochet wird nach Spanien ausgeliefert. Freudentränen flossen, die übermüdeten Menschenrechtsaktivisten lagen sich gegenseitig in den Armen, tanzten und sangen. Spanische Fahnen wurden geschwenkt. „Wir sind sehr glücklich, das ist ein großer Erfolg für uns“, sagte Viviana Diaz, die Präsidentin der Organisation der Angehörigen der Diktaturopfer. Es war bereits das vierte Mal, dass sie diesen Satz in die Dutzenden von Fernsehkameras hinein sagte, die in dem Hinterhof aufgebaut waren. Bei den Entscheidungen über die Rechtmäßigkeit der Festnahme Pinochets und bei der Frage, ob ein ehemaliger Staatschef Immunität genieße, saßen sie hier schon einmal zusammen.

Am anderen Ende der Stadt, in der Villa der Pinochet-Stiftung im noblen Vitacura-Viertel im Osten Santiagos, starrten die Anhänger des Generals resigniert auf die Fernseher. Obwohl sie insgeheim damit rechnen mussten, traf sie die Entscheidung aus London wie ein Schlag ins Gesicht. Vor einem übergroßen Ölgemälde von Pinochet in Uniform weinten einige von ihnen.

Auch die Pinochet-Anhänger haben die Nacht durchgemacht und Mahnwache gehalten, doch vergebens. Auf einer eilig anberaumten Pressekonferenz befand der Präsident der Stiftung, Luis Cortes Villa, die Entscheidung des Londonder Gerichts, Pinochet an Spanien auszuliefern, sei „das Schlimmste, was in der jüngsten chilenischen Geschichte passiert ist“. Trotz allem machte er sich und seinen Kumpanen Mut: „Wir lassen unseren General nicht alleine.“ Die letzte Karte der Pinochet-Anhänger ist jetzt der labile Gesundheitszustand Pinochets und die Hoffnung, dass er aus „humanitären Gründen“ nach Chile geschickt wird. Cortes Villa fordert daher von der chilenischen Regierung: „Sie muss Druck auf London und Madrid ausüben.“ Denn Pinochet werde einen Prozess, „der sich über Jahre hinziehen kann, nicht durchhalten können“. Am Freitagnachmittag wollen Menschenrechtsaktivisten in Santiago demonstrieren, um die Entscheidung des Londoner Gerichts zu feiern. Auch in Chile laufen über 40 Verfahren gegen Pinochet, die Angehörigen der Diktaturopfer setzen aber lieber auf die europäischen Gerichte. Viviana Diaz stellt klar, dass es ihr nicht um Rache geht: „Pinochet hat ein Recht auf ein faires Vefahren.“ Sie fügt hinzu: „Wir werden alles tun, damit die Auslieferung nach Spanien stattfindet.“

Die chilenische Regierung lässt sich gewohnheitsgemäß für eine offizielle Antwort Zeit. In einem Wahljahr kommt ihnen das Pinochet-Verfahren überhaupt nicht gut zupass. Die regierende große Koalition aus Christdemokraten und Sozialisten beharrt darauf, dass ein Verfahren gegen Pinochet in Spanien ihre Souveranitätsrechte verletze, Pinochet müsse vor einem chilenischen Gericht der Prozess gemacht werden. Das sind neue Töne in Chile, die erst seit der Festnahme Pinochets in London zu vernehmen sind.

Jedoch hat niemand im Regierungspalast La Moneda damit gerechnet, das Londoner Gericht werde Pinochet nach Chile schikken. Die Regierung will aber auf jeden Fall Aufsehen vermeiden. Nachdem Menschenrechtsaktivisten und linke Politiker bedroht worden sind, wurde für sie Polizeischutz angeordnet. Ingo Malcher