Die Geisterstadt

Kernschmelze in Krümmel, Teil 2 des Katastrophenszenarios: Hamburg wird evakuiert – und auf unabsehbare Zeit verstrahlt und für Menschen unbewohnbar bleiben  ■ Von Marco Carini

Drei Jahre lang lag das Gutachten als streng geheime Verschlusssache in den Schubladen der Hamburger Umweltbehörde. Der damalige Amtschef, SPD-Umweltsenator Fritz Vahrenholt, hielt die Ergebnisse des Katastrophenszenarios offenbar für so brisant, dass er den Zeitpunkt der Veröffentlichung ganz genau steuern wollte. Immerhin hatte das Darmstädter Öko-Institut in behördlichem Auftrag erstmals ein umfassendes Bild über die Folgen eines schweren Unfalls in einem der vier Hamburg umzingelnden Atomkraftwerke – in diesem Fall Krümmel – erstellt.

Die Resultate übertrafen die schlimmsten Erwartungen: Die radioaktive Wolke, die nach einem Kernschmelzunfall bei ungünstigen Windbedingungen über die Hansestadt hinwegziehen würde, reicht aus, um bei 40.000 bis 100.000 HamburgerInnen eine tödlich verlaufende Krebserkrankung auszulösen. Die Hansestadt müßte fast vollständig evakuiert werden und bliebe über Generationen hinweg in weiten Teilen unbewohnbar. Hamburg verkäme zur radioaktiv verstrahlten, menschenleeren Geisterstadt.

Als offizieller Grund für die jahrelange Geheimhaltung der Expertise diente ein angeblicher Rechenfehler, an den sich die Autoren der Studie allerdings nicht erinnern können. Im März 1995 erst kam das Unfall-Szenario ans Licht der Öffentlichkeit – präsentiert wurden den Medien allerdings nur ausgewählte Auszüge. So gelang es Vahrenholt, den öffentlichen Aufschrei in Grenzen zu halten. Nach zwei Tagen war die hoch explosive Studie bereits wieder vom Tisch. Jetzt erst, vier Jahre später, durfte die taz Einblick in das gesamte Gutachten nehmen.

In ihrem Unfall-Szenario gehen die Öko-Instituts-Atomexperten Roland Bähr und Christian Küppers von einem Ausfall der Wärmeabfuhr des Reaktors Krümmel aus. Durch das Versagen der Steuerungsventile oder der Schnellabschaltung entsteht ein Überdruck im Reaktordruckbehälter und im Sicherheitscontainment. In der Außenhülle entstehen durch den Druck Gebäude-Leckagen, durch die wenige Minuten nach Eintritt des Unfalls radioaktive Edelgase und Jod-Isotope in die Umgebung freigesetzt werden. Wenige Minuten später erreicht die ers-te strahlende Wolke bei Altengamme die sieben Kilometer entfernte Stadtgrenze, vierzig Minuten später wird sie bereits die Hamburger City erreicht haben. Sie überquert die Hansestadt nördlich der Elbe in Richtung Pinneberg. Weitere Todeswolken werden folgen, erst nach rund fünf Stunden nimmt die radioaktive Konzentration in der Hamburger Luft in diesem Szenario wieder ab.

Dabei gehen die Autoren der Studie davon aus, dass ein mittelstarker Wind aus Südost die radioaktiven Stoffe genau über das Zentrum der Hansestadt treibt, sie dort allerdings nicht durch Regenfälle auf das Stadtgebiet niedergehen. Bei einem Regenguß von nur einem Millimeter pro Quadratmeter würde sich die Bodenverseuchung bereits verfünfzehnfachen – mit den entsprechenden Folgen für Leib und Leben der HamburgerInnen. Doch auch ohne radioaktive Regenschauer sind die Folgen verheerend.

Die kurze Zeitspanne zwischen Unfall und Fall-Out lässt eine geordnete Evakuierung der Bevölkerung nicht mehr zu. Auch eine Ausgabe von Jodtabletten, welche die Schilddrüse vor der Aufnahme radioaktiver Teilchen schützen sollen, ist nicht mehr möglich. Dem von der Innenbehörde geleiteten zentralen Katastrophendienststab (ZKD) bleibt nur eins: Die Alarmsirenen in Gang zu setzen und rund 1,2 Millionen Menschen – zwei Drittel aller HamburgerInnen – über Funk und Fernsehen aufzufordern, geschlossene Räume, am besten Kellergewölbe ohne Fenster, aufzusuchen, bis die Konzentration der strahlenden Partikel zurückgegangen ist.

Anschließend aber müssten all diese Personen evakuiert werden. Nach dem Szenario des Öko-Instituts bliebe nur der hohe Norden Hamburgs, das Alstertal und die Waldörfer sowie der Harburger Raum so weitgehend von der nuklearen Verseuchung soweit verschont, dass nach den amtlichen Grenzwerten Gesundheitsschäden unwahrscheinlich sind. Vorausgesetzt, der Wind dreht nicht.

Die Katastrophenschützer, die binnen Minuten entscheiden müssen, stecken dabei in einer unauflösbaren Klemme. Über die freigesetzte Menge radioaktiver Stoffe werden ihnen keine exakten Informationen vorliegen – sie kann mit Hilfe von Messungen in der Nähe des Unfall-Reaktors nur grob geschätzt werden. Offen ist auch, ob durch eine nachfolgende Kernschmelze noch weitere massive Freisetzungen radioaktiver Teile erfolgen. Bekommen die fieberhaft arbeitenden Kraftwerksmitarbeiter den Störfall aber noch unter Kontrolle, bedeutet eine panikartige Massenflucht ein ungleich größeres Risiko als der Unfall selbst. Lässt sich die Katastrophe aber nicht verhindern, bedeutet die Empfehlung, in der Stadt zu bleiben für mehrere zehntausend Menschen den sicheren Tod.

Die Strahlung, die nach dem Szenario des Öko-Instituts binnen weniger Stunden über die Hansestadt hinwegzieht, würde reichen, um bei 45.000 bis 106.000 HamburgerInnen eine unheilbare Krebserkrankung auszulösen. Doch damit nicht genug. Zu den Spätschäden heißt es auf Seite VII/59 der Unfallstudie wörtlich: „Insbesondere Krebsfälle, die geheilt werden können und nicht zum Tode führen, und genetische Schäden kämen als weitere Schäden hinzu. Die Zahl der Gesundheitsschäden in Form von nicht zum Tode führenden Tumoren ist deutlich höher als die Zahl von Tumoren mit Todesfolge“.

Während die Zahl der tödlichen Spätschäden in die Zehntausende gehen wird, dürfte die Zahl der Menschen, die binnen weniger Tage der Folgen der radioaktiven Verseuchung erliegen, gering sein. Nur in dem Bereich, der in Windrichtung nicht weiter als 10 Kilometer vom Unfall-Reaktor entfernt liegt, kämpfen die Ärzte tagelang um das Überleben der am stärksten verstrahlten Opfer. Medizinische Kapazitäten dafür sind jedoch kaum vorhanden. Bundesweit gibt es nur rund 60 Spezialbetten für die Behandlung von Strahlengeschädigten, ganze neun davon in Hamburg in der nuklearmedizinischen Abteilung des AK St. Georg. Die Organisation „Internationale Ärzte gegen den Atomtod“ (IPPNW) hat auch aus diesem Grund darauf hingewiesen, „dass wir bei einem AKW-GAU keine nennenswert einplanbare Hilfe leisten können“.

Ob 45.000 oder 106.000 Personen von einer langfristig wirkenden tödlichen Strahlenerkrankung betroffen werden, hängt in der Praxis davon ab, wie viele HamburgerInnen den amtlichen Anweisungen Folge leisten. Der grösste Teil der radioaktiven Todespartikel wird über die Atemwege aufgenommen werden. Fensterlose Kellerräume bieten den besten Schutz, doch auch sie können das Quantum eingeatmeter radioaktiver Teilchen – und damit die Spätschäden – nur halbieren. Die Autoren der Krümmel-Studie aber vermuten, das nicht alle Personen der Aufforderung nachkommen, geschlossene Räume aufzusuchen.

Menschen, die über ein Auto verfügen, versuchen, den Strahlen zu entkommen oder ihre Familien zu erreichen und fahren schutzlos in die Strahlenwolke hinein. Das könnte bei einem Atomunfall zur Hauptarbeitszeit vor allem für die Bürostadtteile in der City gelten, in denen nur 13.000 Menschen leben, aber über 130.000 Personen arbeiten. Eine Flucht ist – wenn überhaupt – nur nach Norden möglich. Doch mit jedem Meter in diese Richtung wird die Belastung, bei einem Freisetzungsverlauf wie in der Öko-Instituts-Studie beschrieben, noch größer. Entscheidend für die Zahl der schweren Strahlenerkrankungen wird auch sein, ob alle zuständigen Stellen der Hansestadt rechtzeitig von der Atomkatastrophe erfahren, und ob die geordnete Evakuierung der Hansestadt innerhalb von zwölf Stunden nach der Freisetzung gelingt.

Es wird ein Abschied für immer sein, denn die Evakuierten werden niemals zurückkommen. Hamburg wird auf unabsehbare Zeit eine Geis-terstadt bleiben. Auch nach einem halben Jahrhundert, so haben die Verfasser der Studie errechnet, wäre eine Fläche von 410 Quadratkilometern – mehr als der Hälfte des Hamburger Stadtgebietes – immer noch unbewohnbar. Selbst nach umfangreichen Dekontaminierungsmassnahmen, die technisch theoretisch möglich, praktisch aber unbezahlbar sind, bliebe eine Fläche von knapp einem Viertel des Stadtgebietes, darunter die Innenstadt, St. Pauli, Altona und Eimsbüttel Sperrgebiet.

Für Hamburgs jetzigen Umweltsenator Ale-xander Porschke (GAL) lassen sich solche „Schäden von unermesslichem Ausmaß“ nur durch „den Ausstieg aus dieser gefährlichen Technik“ wirklich ausschließen. Ein „umfassender Schutz der Bevölkerung bei einem Kernschmelzunfall“ sei „nicht möglich“. Den Hamburgischen Electricitäts-Werken (HEW) wirft der grüne Politiker vor, ihr an die AnwohnerInnen des Kraftwerks verteilter Störfalllratgeber werde dem vorgeschriebenen Ziel, „die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen zu erhöhen, nicht gerecht“. HEW-Sprecher Johannes Altmeppen hingegen beruhigt damit, dass ein Katastrophenszenario wie vom Öko-Institut beschrieben „nach den Maßstäben praktischer Vernunft auszuschließen“ sei. Sein Ratschlag: „Ich muss mein Leben nach dem ausrichten, was wahrscheinlich ist – sonst werde ich ein Fall für die Psychiatercouch.“