Meine Stimme kriegt keiner“

■  Für die einen ist Wählen wie selbstverständlich Pflicht. Andere haben von Politik die Schnauze voll. Ein ernüchternder Spaziergang zur Mittagszeit am Wahlsonntag

Nieselregen am Wahlsonntag. Politiker mögen das nicht, weil dann die Wahlbeteiligung sinkt. Gestern war ein Wetter zum Im-Bett-Bleiben. Dazu dieser emotionslose Wahlkampf. Geht da überhaupt noch jemand wählen?

Im Wahllokal 107 in der Kreuzberger Böckhstraße sind die Wahlhelfer bis Mittag mit der Wahlbeteiligung unzufrieden. Erst 20 Prozent haben ihre Kreuzchen in den grauen Plastik-Wahlkabinen gemacht. Der Landestrend liegt zur Stunde bei 24,1 Prozent.

Seidene Regenfäden benetzen Bäume, Sträucher, Pflastersteine und Autos. Alles grau. Die Straßen wie leer gefegt. Das Vienna Art an der Admiralbrücke unweit vom Wahllokal ist gerammelt voll. An einem Tisch findet ein Familientreffen statt. Omas und Opas, Mütter und Väter, Klein- und Kleinstkinder sitzen um einen großen Tisch herum. Die Frage, ob sie nicht wählen, empört sie geradezu: „Natürlich wählen wir.“ Im Rizz schräg gegenüber sitzt ein junges Paar, frühstückt à la carte. Er ist Garten- und Landschaftsbauer, 25 Jahre alt, sie ist 35. Verkäuferin, sagt er, arbeitslos, sagt sie: „Das kann man ruhig mal sagen.“ Wählen gehen sie schon lange nicht mehr. Nicht mal bei der Bundestagswahl vor einem Jahr haben sie ihre Stimmen abgegeben und das, obwohl sie auf einen Regierungswechsel gehofft hatten. Nach einem Jahr Schröder sind sie enttäuscht: „Den Kohl, den hab ich noch verstanden“, sagt er, „aber den Schröder, den versteh ich nicht mehr.“ Das Thema Politik ist für beide gegessen: „Keine Motivation mehr.“

Auf nach Wedding, ein alter Arbeiterbezirk, eine Hochburg der Sozialdemokraten, noch gar nicht so lange her. Inzwischen gibt es hier fast mehr Arbeitslose als SPD-Wähler. Die Parteizentrale der Landes-SPD liegt vis-a-vis vom Arbeitsamt.

An den Laternenpfosten hängen mitnichten rote Köpfe. Stattdessen heischen Reps und NPD mit markigen Sprüchen um die Gunst der Wähler. Die des 48 Jahre alten Friedhofsgärtners hätten sie fast bekommen. Er kommt aus dem Osten. Er glaubt zu wissen, warum die Wahlbeteiligung dort so gering ist: „Da gibt's keine Arbeit und keine Zukunft. Darum wählen die entweder rechts, PDS, oder gar nicht.“ Die Reps zu wählen, hat er sich diesmal noch verkniffen. „Aber wenn es so weiter geht, dann bestimmt beim nächsten Mal.“

Im Weddinger Grau ist die Frau ein wandelnder Farbtupfer: Lila Haare, lila Mantel, lila Schuhe. Sie geht wählen, selbstverständlich. „Das sollte Pflicht sein“, sagt sie. Am 1. Oktober hat sie ihren Job verloren. „Wenn ich nicht wähle, wird es auch nicht besser, und außerdem haben dann diejenigen etwas davon, die noch schlimmer sind als die, die jetzt dran sind.“

Aus der U-Bahn kommt eine junge Frau. Sie strahlt über das ganze Gesicht. Ab morgen wird sie Diplom-Psychologin sein. Sie ist noch unsicher, ob sie zur Wahl geht. „Ich will wohl, aber ich weiß nicht, wem ich meine Stimme geben soll.“ Sie werde sich wohl erst dann entscheiden, wenn sie die Stimmzettel vor Augen habe.

Entschieden hat sich eine ältere Frau, die sich gerade in den Fahrplan vertieft. Nein, wählen geht sie nicht, schnauft sie schwer bepackt, als käme sie von einem Großeinkauf. „Jeder bescheißt jeden, auf Deutsch gesagt! Ich sehe nicht ein, irgend jemandem dafür meine Stimme zu geben.“

Wahllokal 40 im Jugendclub 29 am Rosa-Luxemburg-Platz. Hier ist nicht viel Verkehr. Dennoch hat sich ein nicht sehr findiger Werbestratege diesen Ort ausgesucht, um Flugblätter mit dem neusten Angebot eines Berliner Autohändlers austeilen zu lassen. Seit dem frühen Morgen steht hier eine 18-jährige Gymnasiastin aus Prenzlauer Berg in ihrem weißen Overall. „Nix los hier“, sagt sie.

Wählen gehen will sie auf jeden Fall. „Schon allein deshalb“, sagt sie, „weil es für mich das erste Mal ist.“ Was sie wählen will, weiß sie noch nicht. „Jedenfalls nicht CDU oder SPD.“ Thorsten Denkler